Mir ist aufgefallen, dass sehr viele Blogger, ganz anders als ich, intensiv die Tagespolitik kommentieren. Das heißt nicht zwingend, dass sie politisch informiert wären. Der beliebteste deutsche Blog bei WordPress.com ist z.B. von einem Bundesvizevorsitzenden einer Partei mit dem einprägsamen Namen „Piraten“, der von sich sagt, ein unpolitischer Mensch zu sein, und das sogar eindrucksvoll belegen kann: Vor vier Tagen hat er einer Zeitung mit dem – wie er meinte – doch eigentlich liberal klingenden Namen „Junge Freiheit“ ein Interview gegeben und zeigte sich hinterher verwundert, warum die so komische Fragen bezüglich der Zensur rechtsradikaler Internetseiten gestellt haben. (Eine kurze Google-Recherche nach der Interviewanfrage hatte er trotz doch sicher stark ausgeprägter Internetaffinität seltsamerweise nicht hingekriegt. Aber vielleicht wäre die Information, dass es sich um ein rechtsextremes Blatt handelt ja ohnehin wegen irgendwelcher Zensurgesetze unauffindbar gewesen.)
Dem Konzept des Raushau-Blogs entspricht es, Dinge zu kommentieren, ganz egal, ob man was davon versteht oder nicht. Es geht ja ums Raushauen. Also warum nicht auch mal was z.B. zum Merkel-Steinmeier-Gespräch schreiben, wenn es halt dringend raus muss. Bei vielen Bloggern musste es raus, und auch bei mir entstand das Bedürfnis, was darüber zu bloggen. Es wurde zwar nicht direkt ausgelöst durch die Fernsehsendung, sondern durch das Gefühl, sonst irgendwie mal wieder nicht dazuzugehören, aber als Bedürfnis ist es jetzt halt mal da.
Ja gut, also ich sag mal: Das Gespräch zwischen Kanzlerin und Vizekanzlerin (nee Quatsch: Vizekanzler, wobei: „Kanzlerin und Vizekanzler“ haut jetzt so rein sprachlogisch auch nicht ganz hin, oder?), also das Gespräch zwischen der Kanzlerin und ihrem Vize verlief ja nun der politischen Sachlage entsprechend eher reibungslos. Die Kanzlerin kündigte zwar an, mit der FDP zu koalieren, weil man dann mehr Atomkraft und weniger Steuern machen könnte. Aber halt nur, wenn das denn von den Mehrheiten her gehen sollte. Wenn nicht, dann halt nicht, auch nicht weiter schlimm. Der Vizekanzler fand, es sei schlimm, wenn sie mit der FDP koalieren würde, wegen der Atomkraft und der Finanzierung der Steuersenkungen, deshalb solle man halt besser ihn wählen. Das war’s eigentlich schon. Einige Analysten fanden noch toll, dass der Vizekanzler auch mal gelächelt habe.
Ich habe mir, um mich umfassend zu informieren, auch noch das Gespräch mit den Fraktionsvorsitzenden der Opposition am darauffolgenden Tag angesehen. Hier war das Journalisten-Politiker-Verhältnis beinahe umgekehrt: Während sich Merkel und Steinmeier gleich vier Journalisten gegenüber sahen, hatte man hier mit Westerwelle, Trittin und Lafontaine drei Politiker, denen nur zwei Journalisten gegenüberstanden. Hat erstaunlicherweise aber auch funktioniert: Obwohl sie in der Überzahl waren, haben sich die Politiker anständig benommen und nicht mit Papierkügelchen geschmissen oder mit Tinte gespritzt. Die Konstellation auch dieses Gesprächs hatte etwas interessant Uninteressantes. Waren sich die Kanzlerin und ihr Vize logischerweise einig darin, alles richtig gemacht zu haben, waren sich die Vorsitzenden der Oppositionsfraktionen logischerweise einig darin, dass die das meiste falsch gemacht hatten. Man sieht, es kommen komische Ergebnisse heraus, wenn man versucht, etwas wie die Präsidentschaftskanditatendebatte aus den USA 1:1 für die BRD zu übernehmen, obwohl hier ganz andere Verhältnisse bestehen. Doch können einen solche komischen Ergebnisse auch auf interessante Ideen bringen.
Grüne, Linke und FDP hatten mehr gegen die große Koalition als gegeneinander vorzutragen. Obwohl natürlich gewisse weltanschauliche Differenzen zwischen Lafontaine und Westerwelle nicht zu übersehen waren, bestand doch in vielen Punkten durchaus Einigkeit, und die ganze Rhetorik wirkte nicht unerbitterlich konfrontativ. Westerwelle sah sich genötigt, an einigen Stellen ausdrücklich zu betonen, dass hier ein Unterschied zwischen Linkspartei und FDP bestehe, während Lafontaine wiederholt darauf bestand, dass dieser und jener – tatsächlich nicht sonderlich FDP-ähnlich klingende – Vorschlag aus dem Munde des FDP-Vorsitzenden von der Linken abgekupfert worden sei, der einzigen Partei, die schon vor der Finanzkrise gefordert habe, was jetzt mehr oder weniger alle fordern würden.
Ich werfe einen Blick auf die aktuelle Forsa-Umfrage zur Bundestagswahl. Demnach kämen CDU (35%) und SPD (21%) zusammen gerade einmal auf 56 % der Stimmen. FDP (14%), Linke (14%) und Grüne (10%) hätten zusammen immerhin 38%. Dann sind da noch 6% Sonstige. Eine erheblich geschwächte große oder eine schwarz-gelbe Koalition wären möglich. Da ist aber noch Bewegung drin, wie der Fachmann sagt. In letzter Zeit höre ich von allen möglichen Seiten, diese abstruse Partei namens „Piraten“ könne vielleicht die 5% Hürde schaffen. Ich nehme hier einfach mal an, das klappt. Weiter nehme ich an, dass sie keiner der im Bundestag vertretenen Parteien viele Stimmen wegnehmen wird, da sie sich ja als eine Bewegung der Unpolitischen versteht, und die wären sonst vermutlich gar nicht zur Wahl gegangen. Ich rechne also noch mal 5% Piraten dazu. Dann wäre eine große Koalition mit 56% zu 43 % möglich. Aufgrund des langweiligen TV-Duells zwischen Merkel und Steinmeier, nehme ich an, wird es weder CDU noch SPD gelingen, in den nächsten zwei Wochen noch zusätzliche Wähler zu mobilisieren. Ich glaube im Gegenteil, sie werden noch ein kleines bisschen mehr in der Wählergunst sinken. Steinmeier, heißt es, habe ein wenig besser ausgesehen, als Merkel, sagen wir also, die CDU verliert weitere 4%, die SPD 3%. Die CDU verliert natürlich an die FDP, die damit endlich, endlich, was haben wir darauf gewartet, ihr Projekt 18 verwirklicht hat. Die SPD auch, denn sie verliert noch ein weiteres Prozent an die Linke und 2% an die Grünen. Dann ergibt sich folgende Konstellation: CDU: 31%, SPD: 18%, FDP: 18%, Linke: 15%, Grüne: 12%, Piraten: 5%.
Damit wäre eine Koalition mit nur zwei Parteien rechnerisch nicht mehr möglich (nur eine Duldung einer solchen Koalition wäre denkbar). Jetzt würden natürlich sofort die üblichen Überlegungen einsetzen: Jamaika, Ampel oder Rot-Rot-Grün?
Die Ampel hat Westerwelle kategorisch ausgeschlossen. Allerdings könnte er bei dieser Konstellation das Kanzleramt für sich beanspruchen, denn die FDP hätte genauso viel Stimmen wie die SPD. Unter diesen Umständen, würde er es sich vielleicht noch mal überlegen, aber da die SPD ja dazu neigt, das höchste Amt selbst dann für sich zu beanspruchen, wenn sie weniger Stimmen als der Koalitionspartner hat (vgl. Schröder 2005 und jetzt Matschie in Thüringen) kann man diese Variante wohl ausschließen.
Jamaika wird am Atomausstieg scheitern. Das dürfte die allereinzigste Frage sein, die für die Grünen wirklich nicht verhandelbar ist. Umgekehrt kann man wohl ausschließen, dass Union und FDP, wenn sie zusammen regieren würden, gegen die geballte Kraft ihrer Lobbygruppen am Atomausstieg festhalten könnten.
Rot-Rot-Grün? Haha! Wäre bei dem desaströsen SPD-Ergebnis rein rechnerisch nicht möglich. Steinmeier und Münte müssten sich also keine Sorgen machen, von ihrer Partei abgesägt zu werden, damit der Weg für das Linksbündnis frei wäre.
Also was machen wir jetzt? CDU+SPD+x? x=FDP? Ausgeschlossen. Das kann sich die SPD nach der Wahlniederlage nicht antun, dann lieber Opposition. x=Linke? Im Vorfeld gleich von beiden Parteien ausgeschlossen. x=Grüne? Das könnte vielleicht gehen. Andere Möglichkeiten für die SPD? Nö. Mit 18% abgestraft und dann noch in irgendwelchen wackeligen Konstellationen, in denen auch immer noch die Linkspartei drin wäre? Das klappt nicht. Andere Möglichkeiten für die CDU? Nur unter Beteiligung der Linken oder der Piraten, da glaube ich nicht dran.
Bleibt neben Schwarz-Rot-Grün nur noch folgende reizvolle Variante, ich nenne sie die Größte anzunehmende Koalition: FDP, Grüne, Linke und Piraten. Das klingt erst mal unmöglich, aber genau so wird es kommen. Warum?
Aus der Sicht der FDP ist es klar. In dieser Konstellation würde Guido Westerwelle Kanzler werden. Dafür wird er bereit sein, die ein oder andere Kröte zu schlucken (Lafontaine als Superminister für Wirtschaft und Finanzen). Für die Grünen könnte Schwarz-Rot-Grün zunächst attraktiver erscheinen: In Rot-Grün hat man Übung, die CDU ist kein Schreckgespenst mehr, und man hätte es mit zwei Wahlverlierern zu tun, könnte also theoretisch auftrumpfen. Andererseits man käme in eine geschwächte, aber doch in eine „große“ Koalition rein, wäre da immer noch der kleinste Partner. Alle würden sagen: Die Grünen sind die Partei, die dafür sorgt, dass die abgewählte große Koalition weitermachen kann. Das klingt nicht attraktiv. Dagegen wäre die Größte anzunehmende Koalition die Koalition, die die abgewählte große Koalition auch wirklich ablösen würde. Zudem hat man mit der Linken viele programmatische Gemeinsamkeiten, und man würde in die Geschichte eingehen als eine Partei, die den ersten schwulen deutschen Kanzler mitgewählt hat. Auch wenn es leider Westerwelle wäre, das würden sich die Grünen nicht entgehen lassen. Für die Linke wird es natürlich schwieriger, Guido Westerwelle als Kanzler zu akzeptieren. Lafontaine müsste unbedingt das Superministerium für Wirtschaft und Finanzen für sich beanspruchen. Das wäre natürlich ein Déjàvu-Erlebnis. Wenn er schon unter Schröder als Kanzler hingeschmissen hat, wie sollte er es dann unter Westerwelle aushalten? Hier muss man allerdings in Rechnung stellen, dass die Zeiten sich geändert haben: Schröder war der Kanzler der Wirtschaftsblase, der als Sozialdemokrat – seinem Vorbild Tony Blair hinterherhinkend – den neoliberalen Zeitgeist in entsprechende Politik umgesetzt hat. Westerwelle könnte umgekehrt der wirtschaftsliberale Kanzler werden, der unter dem Druck des gewandelten Zeitgeistes eine Regulierung der Finanzmärkte angeht. So gesehen könnte es Lafontaine unter ihm leichter haben, als unter Schröder. Da ihm auch international der Wind nicht mehr so scharf entgegenweht, dürfte er weniger Grund für trotzige Reaktionen haben und dementsprechend auch kompromissbereiter sein. Ach ja, dann wären da noch die Mehrheitsbeschaffer von der Piratenpartei: Gebt ihnen ein Ministerium für Internet und Gedöns dann freuen sie sich einen Kullerkeks und sind ruhig. Sonst zieht sie bei den Koalitionsverhandlungen über den Tisch. Gegen euch stimmen werden sie ohnehin nicht, denn dann müssten sie mit CDU und SPD stimmen, den beiden Parteien gegen deren Politik sie angetreten sind.
Schlussstatement: Unter dem Eindruck der beiden Fernsehsendungen, dem Regierungsduett und dem Oppositionsterzett, bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass eine Größte anzunehmende Koalition der drei von ihrer Herkunft und Geschichte so verschiedenen Oppositionsparteien (+ die twitternde Berufsjugend) der ultimative Konsens ist, der unser Land in den Zeiten der Krise voranbringen wird. Jenseits ideologischer Grabenkämpfe sollten sich hier verantwortungsvolle Macher und Entscheider zusammen finden und einen neuen Weg gehen. Die Chancen, dass nach dem 27. September ein wirklicher Ruck durch unser Land geht, sind größer, als manch einer vielleicht heute noch glauben mag.