Papa hat das Badezimmer zu einem Biotop für Flusskrebse umfunktioniert. Wie fröhlich sie in der Badewanne umherkrabbeln! Ich sehe diese Tiere zum ersten Mal, und sie gefallen mir. Sie sind bestimmt so groß wie meine Hand, und sie haben sehenswerte Scheren, Papa bräuchte mich nicht extra darauf hinzuweisen, ich habe sie bereits entdeckt. Ich soll meine Finger davon lassen, warnt er, die könnten ganz schön zuschnappen. Das glaube ich ihm. Ein übermäßiges Bedürfnis, es auszuprobieren, verspüre ich nicht. Vielleicht bin ich gerade dabei, eine wichtige Stufe in meiner kindlichen Entwicklung zu verpassen, aber Dinge, die einem so einsichtig vor den Augen stehen, muss man nicht unbedingt auch noch mit den Händen überprüfen, selbst wenn man ein kleines Kind ist, finde ich. Jedenfalls nicht Dinge, deren Schmerzhaftigkeit sich auszumalen, wenigstens meine Fantasie ausreicht.
Ich frage mich, ob die Fantasie meiner kleinen Schwester wohl auch ausreicht. Sie steht neben mir und macht Glubschaugen. Mit unschuldiger kindlicher Neugierde betrachte ich ihre kleinen Fingerlein, die im Moment völlig unversehrt und auffallend ruhig auf dem Rand der Badewanne liegen. Mal sehen, was der Tag noch so bringen wird, denke ich mir.
Im Raum steht eine weitere unausgesprochene Frage. Wie ist die Anwesenheit der Krebse in unserer Badewanne zu erklären? Ich kenne die Einstellung meiner Eltern zum Thema ‚Haustiere’. Sie ist negativ. Aber vielleicht gilt sie nur für kuschelige Tiere mit Fell, die man angrapschen kann. Das scheint plausibel. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, wie meine kleine Schwester mit dem für pädagogisch sinnvoll gehaltenen Kaninchen aus dem Kindergarten umgesprungen ist, als wir es kurzzeitig bei uns zur Pflege hatten. Seitdem habe ich ein wesentlich realistischeres Bild von ihrem Charakter.
Heute im Rückblick sehe das ganze übrigens nicht mehr so tragisch. Das Kaninchen war ein Albino, weiß mit roten Augen. In der freien Natur hätten es die anderen Tiere bestimmt auch getötet.
Ein Tier mit scharfen Scheren könnte sich gegen Übergriffe meiner kleinen Schwester besser wehren. Das stelle ich mir pädagogisch sinnvoll vor. Wie ruhig sie ihre Hände auf dem Rand der Wanne liegen lässt!
Dagegen, dass die Krebse als Haustiere gedacht sein sollten, spricht allerdings ihr Aufenthaltsort. Mit mir würde es erst mal keine größeren Probleme geben, aber Mama braucht das Badezimmer. Und zwar täglich. Und lange. Und für sich ganz allein.
Aus meiner Schwester platzt es schließlich heraus: „Behalten wir die?“
„Nein, die gibt es heute zum Abendessen.“
Es braucht seine Zeit, bis ich den Satz halbwegs verstehe. Ich dachte immer, Tiere, die man in der eigenen Wohnung beherbergt, werden nicht gegessen. Das weiße Kaninchen wurde auch nicht aufgegessen, nachdem die Frau Tierdoktor es für immer einschlafen ließ, damit es nie mehr Schmerzen haben musste. Jedenfalls von uns nicht. Vielleicht von den Kindergärtnerinnen, denen es ja eigentlich gehörte. Aber das glaube ich nicht. Es gibt, so weit ich das weiß, nur eine Sorte von Tieren, die man isst. Das sind die Tiere, die man als Fleisch kennen lernt, also sehr tot. Fische bilden die einzige Ausnahme: Sie sind zwar auch schon tot, aber manchmal noch als intaktes Tier zu erkennen und einmal habe ich sogar beim Einkaufen gesehen, wie der Händler einen lebendigen Fisch aus einem Aquarium kescherte und erschlug. Aber Tiere, die man in der Wohnung rumlaufen hatte, sind Teil der Familie, sie zu essen, wäre Kannibalismus.
Die Krebse machen auch von ihrer ganzen Körpersprache her den Eindruck, als wollten sie sich bei mir und meiner Schwester als unsere ersten Haustiere empfehlen. Sollten sie tatsächlich nur auf der Welt sein, um unser Abendessen zu werden, so lassen sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Diese Flusskrebse erwarten mehr vom Leben. Ich frage mich, ob hier ein Irrtum vorliegt. Ich erinnere mich jetzt wieder an Abbildungen von Krebsen in einem Kochbuch. Die Krebse, die dort hübsch auf einem Teller drapiert lagen, waren rot gewesen, krebsrot, wie man sagt, und die in unserer Wanne sind grau-oliv. „Sie werden rot, wenn sie gekocht werden“, erklärt Papa. Ich mag es nicht glauben.
Andererseits, wenn es ums Essen ging, war ich noch nie sonderlich sentimental. Was soll’s, denke ich mir, schmecken ja vielleicht ganz gut. Tschüss, Haustiere. Wir hatten gar nicht die Möglichkeit, uns richtig kennenzulernen, aber so fällt der Abschied auch leichter.
„Ich will beim Kochen dabei sein“, sage ich. Meiner kleinen Schwester muss ich damit in den Rücken gefallen sein. Man kann ihr die Enttäuschung schon ansehen, als sie eine Stunde später mit völlig verheulten Augen wieder aus ihrem Bettkasten hervorgekrochen kommt. Sie wünscht sich eben noch viel stärker als ich irgend ein Haustier.
Inzwischen ist mir klar, warum ihr das damals so ein Bedürfnis war. Ich hatte ja immer noch sie. Aber unter ihr gab es in unserer Familie nichts mehr, nach dem man auch mal treten konnte. Logisch, dass sie immer ein Haustier zum im weitesten Sinn Liebhaben wollte.
Zum Krebsekochen drängt sie mit in die Küche hinein. Papa macht einen fahrigen und unglücklichen Eindruck. Ich glaube, er will uns eigentlich lieber nicht dabei haben, hat sich aber entschlossen, wenn wir denn unbedingt darauf bestehen, sich dem nicht zu widersetzen. Mir wird bewusst, dass Papa das wahrscheinlich selbst auch noch nie gemacht hat. Er fährt mit einer Bürste äußerst grob über den ersten Krebs, der sich benimmt wie jemand, dem es nicht recht ist, getötet zu werden. Hastig wirft Papa ihn in das kochende Wasser. Er blickt ihm nach und macht einen ziemlich entsetzten Gesichtsausdruck dabei. Dann legt er sehr schnell den Deckel auf den Topf. Nach einer Weile hebt er ihn kurz wieder hoch, guckt noch entsetzter und lässt ihn sofort wieder auf den Kochtopf fallen. Meine Schwester protestiert jetzt wild. Nach einiger Zeit hebt Papa den Deckel erneut hoch und diesmal legt er ihn beiseite. Ich soll reingucken. „Siehst du, jetzt ist der Krebs ganz rot, weil er gekocht ist.“ Das finde ich unglaublich faszinierend, wie bei einem Zaubertrick, bei dem der Zauberer aus einem gepunkteten Tuch ein gestreiftes macht. Meine Schwester hat auch ihre Farbe verändert, fällt mir auf. Sie ist jetzt ganz bleich.
Papa greift mit nun etwas sichererer Hand nach dem nächsten Krebs. Meine kleine Schwester reicht eine äußerst scharf formulierte Protestnote ein, aber Papa befördert auch den zweiten Krebs in den Topf. Seine gefährlichen Scheren mutig ignorierend greift meine Schwester hinein und holt ihn wieder heraus. Und das ist erstaunlich: Obwohl er noch gar nicht ganz tot ist, kneift er sie nicht. Er muss instinktiv fühlen, dass sie ihm wohlgesonnen ist. Und jetzt zahlt sich aus, dass ich ihre Finger, wie ich mir das vorgenommen hatte, die ganze Zeit im Auge behalten habe. Ich kann beobachten, wie sie ihre Farbe verändern. Sie werden ganz genauso rot wie der gekochte Krebs. Der Krebs ist stiller, als meine Schwester, aber farblich ähneln sie einander frappierend. Das hätte ich niemals gedacht.