Ich suche mir einen Hass. Ich bemühe mich nämlich um Integration. Und Hass verbindet. Hass verbindet fester und länger als Geld, Lifestyle-Accessoires, Religion und Fußball zusammen. Es wird Zeit, dass ich einen passenden Hass für mich finde. Denn leider war ich nie in eine Gesellschaft integriert. Ich war stets bemüht, mich in meine Familie zu integrieren (ich, drei enge Verwandte und eine Katze) und meistens in meinen ebenso übersichtlichen Freundeskreis, wenn ich mal einen hatte. Das ist mir einigermaßen gelungen, mehr aber nicht. Ich bin behindert, was die Fähigkeit, sich zu integrieren angeht. Das kann man so sagen. Dadurch dass ich es inzwischen so sagen kann, habe ich ein Mindestmaß an Freiheit gewonnen. Vor wenigen Jahren hätte ich das nicht gekonnt. Die Scham wäre zu groß gewesen. Und die Scham nahm mir meine Handlungsfreiheit und ließ mich zurück mit der Freiheit meiner Gedanken, der ich manchmal gern einen Riegel vorgeschoben hätte.
Jetzt nehme ich einen neuen Anlauf, mich in eine Gesellschaft zu integrieren. Die meisten Menschen müssen sich ihren Hass ja nicht erst lange suchen. Sie haben ihn ganz schnell bei der Hand, oft sogar gleich in verschiedenen Sorten zur Auswahl. Bei mir ist das eigentlich nicht anders, auch mir stehen ausreichend Hasssorten zur Verfügung, doch leider sind es nur eingeschränkt funktionstüchtige. Entweder sie sind zu allgemein oder sie sind zu spezifisch. Diese Sorten Hass taugen nicht viel, wenn man sich integrieren möchte.
Ich bin wie der Penner in der Fußgängerzone, dessen Standardfluch für alles und jeden „Scheiß Menschheit“ lautet. So ein Hass führt in die Isolation oder ist in der Isolation gewachsen oder beides – vermutlich beides. Jedenfalls wollte ich dem Penner Recht geben, als er mich mit „Scheiß Menschheit“ beschimpfte. „Ja“, hätte ich fast gesagt, „als Teil der Menschheit bin ich scheiße, weil die Menschheit es nun einmal ist. Es ist nicht meine Schuld, es ist eher so etwas Ähnliches wie die Erbsünde. Nur indem ich mich aus der Menschheit ausschließe, kann ich es schaffen, weniger scheiße zu werden. Das ist der einzige Weg. Ein langer Weg. Doch wir beide sind ihn schon ein Stück vorangekommen, du etwas weiter als ich, ich etwas weniger weit als du. Die Richtung jedenfalls stimmt. Nur in der totalen Integrationsverweigerung kann das Heil liegen. Heilig ist der Eremit und sonst keiner. Diese Weltsicht mag Teil unserer christlich-jüdischen Kultur sein oder die absolute Wahrheit oder beides – als gute Deutsche sollten wir sagen: beides. Unwiderlegbar jedenfalls ist sie, die Wahrheit von der Schlechtigkeit der gesamten Menschheit.“
Der zu allgemeine Hass des Penners in der Fußgängerzone – ich und der Penner, wir könnten belegen, dass wir mit ihm im Recht sind, dass auch die Bibel uns Recht gibt, trotzdem oder gerade deswegen desintegriert er uns. Er desintegriert uns getrennt voneinander. Wir würden uns schnell in Widersprüchen verfangen, wenn wir versuchen würden, in unserem Hass zueinander zu finden.
Die zweite Sorte Hass, die zu spezifische, steht im offenen Widerspruch zur ersten. Wenn der allgemeine Hass konsequent und voll entwickelt wäre, dürfte es sie gar nicht geben. Sie geht gegen Individuen, die Dinge sagen oder tun, von denen ich aus irgend welchen Gründen überzeugt bin, dass sie sehr schlecht sind, und die, warum auch immer, etwas in mir auslösen, was mich bis ins Mark erschüttert. Dieser Hass kann nur ganz wenig integrierend wirken. Er bleibt meistens schwach und klein, an bestimmte Situationen gebunden, relativierbar, vereinzelt und ohne wirkliche Bindungskraft. Wirkung kann er nur dann entfalten, wenn das Individuum in Wahrheit nur ein Exempel ist. Wenn es mit seiner besonders hässlichen, weil fast schon entmenschten Fratze, beispielhaft für die Verdorbenheit einer ganzen Gruppe steht. Das Feuer, mit dem wir Lisa verbrennen, kann uns nur Wärme geben, wenn es für jeden klar erkennbar die Hexe Lisa ist, die wir gemeinsam töten für das höhere Gut unserer Gemeinschaft, die wir schützen müssen vor ihrer schwarzen Kunst, auch wenn es diese unsere Gemeinschaft als solche erst in dem Moment gibt, in dem die Hexe Lisa brennt.
Diese letzte Sorte Hass ist es, die ich brauche, um mich in eine Gesellschaft zu integrieren. Ich suche jetzt nach ihr. Ich habe sie längst gefunden. Es war nicht schwer. Sie war schon da. Sie wartet nur darauf, dass ich den ersten Schritt tue, die Arme öffne, sie in Empfang nehme. Es wäre fast mehr ein Zulassen als ein Tun. Einen kleinen Widerstand müsste ich überwinden und dann liefe es wie von allein, ich würde mich treiben lassen, sie würde mich tragen. Und sie könnte mich gesund machen. Sie hat nicht den besten Ruf, doch sie hat schon viele glücklich gemacht. Und nur wenige, die mit ihr geschwommen sind — sagt man –, haben es jemals bereut.