Ähem, hallo Entschuldigung, ich …

Raushau-Blog Leserservice: Der folgende Text liest sich gemäß „Ich-schreibe-wie“-Zertifizierung [http://ich-schreibe-wie.de/4kW] wie ein Text von Stieg Larsson [ob übersetzt oder im schwedischen Original, bleibt offen]. Der Text hat eine Länge von 8192 Zeichen (Leerzeichen eingeschlossen). Am Ende des Textes ist zusätzlich ein Youtube-Video eingefügt, zu dem gerne auch vorscrollen kann, wer den Text nicht lesen möchte.

… ich wollte was sagen. Unnötig, das anzukündigen, eigentlich. Ich meine, wenn du was sagen willst, dann sagst du es einfach, oder? Du sagst, was du sagen willst und nicht eben vorher, dass du es jetzt gleich sagen willst. Du machst das so. Höchstens, dass du mal etwas sagst wie „jetzt will ich aber auch mal was sagen“, aber damit sagst du dann ja auch schon was, nämlich, dass man dich die ganze Zeit nicht zu Wort kommen lassen hat. So ist das bei dir. Aber ich, ich muss erst ankündigen, dass ich was sage, ich bin gerade immer noch dabei, es anzukündigen, noch habe ich nichts gesagt. Es fällt schwer zu reden, wenn man lange geschwiegen hat.

Ich kann doch nicht einfach nach monatelangem Schweigen hingehen und sagen: „Schönes Wetter heute. Ich mag es, wenn die Sonne scheint.“ Wie lächerlich das wäre! Dass ich gerade jetzt mein Schweigen breche, das muss schließlich einen Grund haben. Es muss etwas wirklich Wichtiges sein, was ich zu sagen habe. Denn alles was ich hätte sagen können in der Zeit, als ich geschwiegen habe, muss weniger wichtig gewesen sein. Sonst hätte das Schweigen ja keinen Sinn gehabt. Und dafür, dass es keinen Sinn gehabt haben sollte, hat es zu lange gedauert, nicht wahr? Vielleicht sage ich deshalb lieber weiter nichts. Ich spüre die Möglichkeit der Unwichtigkeit dessen, was ich sagen wollte. Mehr noch, es droht mir zu entgleiten. Wie ein Traum, der dir eben noch so real und wichtig erschien, als wenn er die einzige Wirklichkeit im ganzen Universum wäre, und kaum bist du aufgewacht, selbst in seinen groben Umrissen nur noch verschwommen erkennbar ist. Es ist vielleicht besser, wenn ich doch nichts sage. Jedenfalls heute noch nicht. Vielleicht morgen, wenn mir wieder einfällt, was genau ich eigentlich wollte. Andererseits: Dass ich was sagen wollte, habe ich schon gesagt. Und wer A sagt muss auch B sagen. Das ganze Alphabet verlangt ja keiner, obwohl ich finde, wenn, dann sollte es eigentlich das ganze Alphabet sein. Aber B nach A reicht dir ja schon, nicht wahr? Wenn einer erst A sagt und dann B, dann hat alles eine Ordnung für dich, du fühlst dich nicht hängengelassen und du kannst gegebenenfalls getrost vergessen, was er gesagt hat, ohne schlechte Gefühle. So ist das doch, oder?

Hörst du mich eigentlich? Ich bin nicht ganz sicher, wie weit meine Stimme noch trägt. War sie nicht schon immer leise, vernuschelt, brüchig, unsicher? Und meine Sätze, waren sie nicht schon immer verworren, nicht auf den Punkt, widersprüchlich, unfertig, abgebrochen? Das dürfte ja wohl kaum besser geworden sein. Als ich ein Kind war, trug meine Stimme noch hundert Meter und weiter. Das weiß ich. Ob jemand sie hören wollte, war eine andere Frage, aber die Stimme war da und wollte gehört werden. Das war auch schon nicht mehr so, bevor ich dann ganz verstummt bin.

Nimm eine viel befahrene Straße, auf der einen Straßenseite du und auf der anderen jemand, den du kennst und der dich nicht sieht, nicht zu sehen scheint. Und du merkst, du willst, dass er oder sie dich sieht, du willst gesehen werden von ihr oder ihm – gern gesehen. Was sie oder er umgekehrt will, wirst du niemals wissen. Du öffnest den Mund, um den Namen der Person auf der anderen Straßenseite zu rufen, 20 Meter ungefähr durch den Lärm der vorbeifahrenden Autos. Tust du es? Trägt deine Stimme? Meine nicht, schon lange nicht mehr, schon bevor ich ganz stumm wurde. Ich kann mich nicht auf die Straße stellen und rufen, es kommt kein Ton. Wer tut so was schon? Bauarbeiter, Proleten, Kinder, aufgekratzte Jugendliche in größeren Gruppen unter Alkoholeinfluss. Und du? Du bist ja nicht stumm. Aber hast du die Stimme dafür? Wenn nicht dafür, wofür dann? Vielleicht bist du auch schon verstummt, nur du weißt es noch nicht. Aber du redest. Ich schweige.

Wer nichts sagt, kann wenigstens auch nichts Falsches sagen, nicht wahr? Du riskierst mit jedem Satz, den du sprichst, dich lächerlich zu machen, dein Ansehen zu verlieren, deine Würde. Und ich, ich halte mich da fein raus und denke mir wahrscheinlich meinen Teil, ich trauriges Arschloch. Manchmal widersprichst du dir bei vollem Bewusstsein, aus Opportunismus. Manchmal widersprichst du dir aus Opportunismus, ohne dass es dir bewusst wäre. Manchmal widersprichst du dir, weil du einfach nur ehrlich bist. Du zahlst den Preis dafür, ein soziales Wesen sein zu wollen. Ich zahle gar nichts und folglich kriege ich auch nichts. Mich quälen Erinnerungen aus der Zeit, als ich noch gesprochen habe. Die hundert dümmsten Sätze meines Lebens, plötzlich wie Panikattacken stechen sie zu. Es sind nur die dummen Sätze geblieben. Wenn ich jemals etwas Kluges gesagt haben sollte, habe ich es vergessen. Ich will nicht noch mehr solche Dummheiten sagen, es ist zu peinlich. Und du glaubst im Ernst, ich mache es mir in meinem risikolosen Nichtssagen bequem. Du, der du doch täglich völlig schmerzfrei einen Mist redest, als wärst du Journalist oder lebenslanger Talkshowgast.

Ich muss unbedingt etwas wirklich Kluges sagen, wenn ich mit dem Sprechen noch einmal wieder anfangen sollte. Was ich gerade denke, werde ich nicht sagen. Ich denke, dass die Zeit sehr schnell vergeht. Das ist ein äußerst banaler Gedanke, den nur denkt, wer sich sehr alt fühlt. Ich habe ihn schon so oft gedacht, dass ich gar nicht mehr sagen kann, vor wie vielen Jahrzehnten zum ersten Mal.

Ich schwieg und unterdessen wurde in Deutschland der Wehrdienst abgeschafft, in Tunesien ein Diktator gestürzt, in Libyen ein anderer mit Hilfe der NATO weggebombt, und in Syrien blieb einer im Amt, weil er Tausende Demonstranten zusammenschießen ließ. In Russland machte Putin Chodorkowskij den Prozess, in Ungarn wurde die Meinungsfreiheit aus der Verfassung gestrichen und in der Schweiz behielt weiterhin jeder ehemalige Wehrdienstleistende ein eigenes Sturmgewehr bei sich zuhause im Schrank. Ich schwieg. In Deutschland spekulierte man darüber, wann der schneidige zu Guttenberg Kanzler werden würde und der ehemalige Ministerpräsident Koch stieg in den Vorstand des Baukonzerns Bilfinger und Berger auf, was mancher geneigt war, korrupt zu nennen, aber eigentlich keinen mehr interessierte. Ich schwieg. Und zu Guttenberg wurde als Hochstapler entlarvt und aus dem Land gejagt, meine Schwester brachte ein gesundes Mädchen zur Welt, in Japan gab es eine Flutkatastrophe und einen Super-GAU und 15 Jahre nach Tschernobyl lernten alle einen neuen Ortsnamen: Fukushima. Angela Merkel steuerte eine Patenthalse in ihrer Atompolitik und beschloss den deutschen Ausstieg, Stefan Mappus flog über Bord und in Baden-Württemberg wurde erstmals ein Grüner Ministerpräsident. Auch in der Elfenbeinküste geschah irgendwas, wie eigentlich in Afrika ja immer irgendwas geschieht, im Mittelmeer ertranken weiter die Flüchtlinge, wichtiger war in Deutschland wie immer der alljährliche Lebensmittelskandal, der dieses Mal EHEC hieß, und die SPD entschied sich nach langem Ringen zwischen grundsätzlicher Haltung und pragmatischem Opportunismus wie immer am Ende für Letzteres und schmiss Thilo Sarrazin doch nicht aus der Partei. Ich schwieg. Obama ließ in Pakistan einen lange gesuchten islamistischen Top-Terroristen exekutieren, in Deutschland wurde erstmals eine Frauenfußball-WM aufgezogen, als sei sie ein vergleichbares Ereignis wie die Fußball-WM der Männer und Westerwelle gab den FDP-Vorsitz ab. Ich schwieg. In Norwegen sprengte ein Terrorist das Regierungsviertel in die Luft und erschoss an die hundert Jugendliche und alle schienen überrascht und erleichtert, dass er kein Islamist, sondern ein Rechtsradikaler war. Griechenland, hörte man, sei pleite, und Europa und ebenso die USA in der schlimmsten Wirtschaftskrise seit man-weiß-nicht-wann. In Berlin wurde Wowereit zum dritten Mal zum Bürgermeister gewählt und die junge Internetpartei Piraten zog zum ersten Mal in ein Parlament ein und im Wedding gab es mir ein beinahe heimeliges Gefühl, dass politisch aktive Leute jedes Plakat von Nazi-Parteien mit brauner Farbe übermalt hatten. Ich schwieg und mir fiel auf, dass ich gar nicht mehr genau wusste, wie lange ich jetzt schon im Wedding wohne.

Und dann war Herbst. Und schönes Wetter. Die Sonne scheint. Ich mag das.

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