Der Frühling ist da

Vor drei Wochen wollte ich über den Frühlingsanfang schreiben. Mir war so. Ich hatte das Gefühl, da kommt er gerade.

Es begann damit, dass ich, kurz bevor der Tag nicht mehr zu retten gewesen wäre, doch noch vor die Tür gegangen bin. Die Sonne schien, und es war noch hell. Nicht dämmerhell von Restlicht reflektierenden Schneeflächen, sondern geradezu knallhell vom Himmel. Als ich dann vor der Tür bin und die überraschend milde Luft in die geöffnete Winterjacke lasse, hat sich das Bild schon leicht verändert. Direkt über mir drückt eine schwarze Wolkenbank. Doch die Sonne steht tief an einem anderen Ort und lässt alles Reflektierende unter dem dunklen Himmel nur um so heller leuchten.

Scharfe Kontraste geben mir ein Gefühl von Klarheit, das mich glücklich machen kann. Die Dinge vermatschen dann nicht miteinander zu Es-ist-mir-egal-aber-so-will-ich’s-doch-nicht-haben-Gebilden, sondern jedes steht einzeln für sich, einzeln und schön. Und greifbar. Ich stehe irgendwo in Berlin und brauche nur die Hand auszustrecken, um mir den Fernsehturm zu pflücken, ihn nach Hause in meine Wohnung zu nehmen und dort in eine hübsche Porzellanvase zu stellen, wo er sich bei guter Pflege einige Tage halten wird. Das macht die Kantenschärfe. Es gibt Menschen, die bewundern sie auch im übertragenen Sinn an anderen Menschen. Wer sich an allen zwölf Kanten seines Quadratschädels deutlich seinen Gegnern gegenüber abgrenzt, dem unterstellen sie Charakterstärke und klares Denken. Am liebsten würden sie ihn sich pflücken und als Leuchtturm in die Wohnung stellen. Doch, sie benötigen Leuchttürme in ihren Wohnungen, gerade dort. Denn sie haben sich so sehr an sie gewöhnt, dass sie vergessen haben, wie wenig sie sie kennen. Sie stolpern über Schwellen, die dann plötzlich schon immer da waren. Die meisten Unfälle passieren im Haushalt. Gut, wenn man so einen Leuchtturm hätte. Schade, dass die Klarheit von Ansichten Illusion ist. Und die Vorstellung, man könne einen mitnehmen in die eigene Wohnung, ohnehin. Kantenschärfe ist allein eine Frage, in welches Licht sich einer stellt.

Ich atme die klare Luft vor meiner Haustür, nehme ihre milde Temperatur als Frühling und gehe los, als der Hagel einsetzt. Nicht viel, nicht hart und nicht lang. Nur ein leiser Gruß von der schwarzen Masse über mir. „Ich weiß doch, dass du da bist“, nicke ich ihr zu, „und danke für das Licht. Und siehst du, was gestern mit den Straßen geschehen ist? Nachdem der Schnee getaut war nach diesem langen Winter, nachdem die Überreste der Silvesternacht in Fetzen und Scherben wieder an die Luft kamen zusammen mit dem Duft von aufgetautem Hundekot, nachdem schließlich die Tauwasserlachen langsam in den Gullis verschwunden sind und das Granulat und der Sand mit jedem Schritt knirschten, wenn man nicht gerade versehentlich mit den Füßen Papierfetzen, zerbrochenes Glas oder Hundekot traf? Seit gestern sind sie leergefegt. Nur den Müll, den der Wind in die Sträucher geweht hat, kann man noch sehen. Gestern noch war alles trübe und Matsch, und auf einmal ist alles rein, Erde und Luft gleichermaßen. Ich weiß, dass du da bist, dunkle Wolke; und so wie jetzt die Sonne steht, gefällst du mir.“

Erkan und Stefan kommen mir entgegen. Sie tragen das Gepäck ihrer Oma, einer tonnenförmigen Gestalt mit langem dunkelblauen Mantel und Kopftuch. Sie tragen es hinter eine von Satellitenschüsselbalkons aufgelockerte Betonfassade. Vermutlich sind es nicht Erkan und Stefan, vermutlich sehen sie nur genauso aus. Es sind Imitatoren. Erkan und Stefan waren vor ihnen da. Sie sind nicht der wahre Kern, aus dem das Klischee entstanden ist, sie sind aus dem Klischee entstanden; sie erfüllen es, so gut sie können. Das hat auch etwas mit Klarheit zu tun, und mit Sicherheit. Früher oder später muss man sich entscheiden, wo man hingehört wegen der Kantenschärfe. Und früher oder später ist natürlich gelogen. Die Wahrheit lautet: sofort und jeden Augenblick.

Im Humboldthain spielen ältere Männer Boule. Ihre Rufe hallen durch den Park, und ich sehe mich als Kind an einem Sonntag mit dem Skateboard auf den asphaltierten Wegen des Volksparks Wilmersdorf zwischen den ganzen Fußballplätzen dort. Um mich herum das Rufen von spielenden Männern; in unregelmäßigen Abständen schneiden die Trillerpfeifen der Schiedsrichter dazwischen, und dann hört man wütende Proteste von kleinen Gruppen neben den Spielfeldern. Ich habe ein Skateboard, weil alle eins haben. Weil die Vorstellung, wie ich darauf stehend mich mit einem Bein lässig vom Boden abstoßend über den glatten Asphalt gleite, schnell, kraftvoll und elegant, mich ganz verliebt in mich macht. Um überhaupt ein paar Meter vorwärts zu kommen, knie ich allerdings meistens auf dem Brett, mit gekrümmtem Rücken und mache hastige Bewegungen mit dem rechten Bein. Das macht nur so ein bisschen Spaß. Aber ich habe das Skateboard, und ich habe den Sonntag, und ich möchte schon etwas anfangen damit. Der sonntägliche Frieden im Park ist tief, und so wie ich die Tiefe eines Abgrundes auf einem bunten Urlaubsfoto sehen kann, weil der Fotograf ganz im Vordergrund einen windschiefen kleinen Baum mit aufs Bild genommen hat, kann ich die Tiefe dieses Friedens hören, weil von den umliegenden Fußballplätzen Schlachtrufe hallen, die für einen Moment sehr ernst gemeint sind. Der Kontrast macht alles klarer.

Ich bin ein Kind, das alles in allem so friedlich und zivilisiert herangewachsen ist, wie wahrscheinlich noch kein Kind vor ihm auf der ganzen Erde. Und das inmitten waffenstarrender Festungen, wie es sie in diesem Ausmaß wohl auch noch nie gegeben hat. Und ich spüre das. Und wenn die linken Liedermacher aus der Plattensammlung meiner Eltern von den Kriegen gegen die Völker Lateinamerikas singen, dann singe ich mit. Und wenn ich auf dem Skateboard fahre, gut möglich, dass ich da gerade die Geschichte vom Fischerjungen Pablo, der dabei zusehen muss, wie seine Eltern von Soldaten grauenvoll ermordet werden, als Ohrwurm im Kopf habe: „Ein Bild in der Zeitung, ein Kindergesicht, / indianisch geschnitten das Haar, schwarz und dicht, [genau wie meins] / ein Junge vielleicht zwölf Jahre alt, / die Haut bronzebraun, von zarter Gestalt. / Und in seinen Händen liegt sperrig und schwer, / entsichert, mit glänzendem Lauf ein Gewehr. / Hab dich nie gesehen und doch kenne ich dich / und nenne dich Pablo nur so für mich. / Und frage mich, wie und warum und woher / haben so Jungen wie du ein Gewehr, / in El Salvador oder anderswo? / Ich brauch nicht zu fragen, ich weiß es auch so.“ Es ist aus der Zeit, in der Hannes Wader Lieder schrieb, die man, wenn man Erwachsen war, als Betroffenheitskitsch abtun konnte, obwohl es das Wort dafür wohl noch nicht gab. Und wenn ich, nicht alltäglich, aber ein, zwei mal bei einem Sonntagsausflug zum Grunewald, Panzerkolonnen der Amerikaner vorbeifahren sehe, prägt das Geräusch ihrer Ketten auf dem Asphalt eine Angst, die dadurch nicht geringer wird, dass ich sie kaum verstehe. Oder wenn die Ostgrenzer von den toten Bahnhöfen aus dem grauen Land, durch das wir im D-Zug, im durchfahrenden Zug, von einer schweren lauten Diesellok mit dem stolzen Namen Taiga-Trommel geschleppt werden, mit Schäferhunden in die Abteile kommen. Und Mama, die ihre Angst vor Hunden, wie auch sonst alle ihre Ängste, behutsam an mich weitergibt, sich fast in die Hose macht. Oder in den Sommerferien in Westdeutschland, wo die Bundeswehr über der Rheinebene mit ihren Düsenjägern durch den Schall bricht und Scheinangriffe auf die beiden Kühltürme vom AKW Philippsburg fliegt. Ich habe die Bilder aus Tschernobyl gesehen und die Angst der Erwachsenen gespürt, die in dem Regen, in dem wir gespielt hatten, so etwas wie ein Gespenst sahen mit dem Namen Fallout. Und ich weiß, wir werden alle sterben, wenn einer der Piloten eines Tages das Atomkraftwerk aus Versehen einmal nicht verfehlt.

Wieder im Heute frage ich mich kurz, ob sie das immer noch machen: mit ihren Kampfjets auf die AKWs zuhalten und erst im letzten Moment abdrehen. Vermutlich schon. Kampfpiloten kann man ja nicht nur am Flugsimulator ausbilden; und nichts gegen unsere AKWs, die halten noch 60 Jahre. Und wenn ich Pilot wäre, das würde mir schon Spaß machen.

Ein junges Pärchen besteigt vor mir den Flakturm. Sie sollen weggehen. Ich bin allein, ich möchte die tiefstehende Abendsonne über den Dächern der Stadt auch allein anstarren. Vielleicht nebenbei noch Enten füttern, wenn hier oben welche wären, mit Wackersteinen am besten, wahlweise Tauben oder Ratten vergiften. Wo stecken sie denn die Weddinger Ratten? Die sind doch sonst nicht so schüchtern. Die beiden Süßen schleppen sich vor mir ungeheuer langsam den Kriegstrümmerhügel hoch. Sie quälen sich. Ich könnte sie drei mal überholen, aber ich kann es nicht, denn auf der Treppe ist nicht genug Platz. Das macht mich nervös und unnötig aggressiv. Am nächsten Absatz komme ich doch vorbei. Das Pärchen röchelt, und sie spukt etwas auf den Boden. „Musst du kotzen?“ fragt er näherungsweise zartfühlend. Und statt zu antworten, spuckt sie noch ein bisschen; aber was Rechtes kommt nicht. Ihr Gesicht verwirrt mich: der Kontrast zwischen äußerem Zustand und innerem Ausdruck. Gemessen am Ausdruck würde ich sagen, sie ist zwölf. Vom Zustand her würde ich sie drei mal so alt schätzen. Er müsste Mitte zwanzig sein. Jemand, der jedes Wochenende in einer Fußballfankurve steht — und es ist nicht die Fankurve von St. Pauli oder Freiburg, und von Bayern oder Werder bestimmt auch nicht. Und eine Weile danach liegt er dann irgendwo. Vielleicht bei ihr, und sie stellt ihm einen Eimer hin und fragt, ob er noch mal kotzen muss, und er stöhnt, dass sie einfach nur das Maul halten soll.

Berlin liegt in der Abendsonne. Ganz schön. Ich habe bei Google-Maps gesucht, was dieser große kahle Berg in greifbarer Nähe im Nordosten vor der Stadt ist: eine Art Mülldeponie oder so was. Ich werde bald das Fahrrad nehmen und mal hinfahren. Es ist ja Frühling.

Am nächsten Tag war dann doch wieder Winter.

Aber jetzt.

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Halloween mit Sarrazin (eine Gruselgeschichte)

Um kurz vor sieben fällt draußen in der Dunkelheit nicht weit von meiner Wohnung ein Schuss. Wenige Sekunden darauf ein zweiter. Ich habe mich, so gut es eben ging, auf mein erstes Halloween in dem Berliner Problemviertel, in das ich dieses Frühjahr leichtsinnigerweise gezogen bin, vorbereitet, doch jetzt zittern mir die Knie. Jetzt wird es ernst. Die Süßigkeitenvorräte habe ich schon vor Wochen an einem sicheren Ort im Berliner Umland deponiert, das große Küchenmesser liegt griffbereit in der Diele. Wenn die sechsjährigen türkischen und arabischen jugendlichen Intensivtäter, wie zu befürchten steht, Halloween zum Anlass nehmen, mich in meiner Wohnung zu überfallen, dann soll es ihnen nicht zu leicht gemacht werden.

Es klopft. Sie hätten auch klingeln können, aber sie klopfen lieber, die Klingel ist ihnen nicht effektvoll genug. Ich habe nur wenig Lärm im Treppenhaus gehört, vielleicht ist es nur einer allein, mit dem könnte ich unter Umständen fertig werden. Besser ist es, wenn ich gleich die Tür öffne, denn früher oder später kriegen sie einen ja doch. Das Messer in meiner schweißnassen Rechten hinter dem Rücken verborgen, drücke ich vorsichtig die Türklinke herunter. Ich hoffe inständig, es ist wirklich nur einer und seine Verkleidung nicht gar zu gruselig.

Er steht in ganzer Größe im Türrahmen. Ich taumle in den Flur zurück und lasse das Messer fallen. Es ist Thilo Sarrazin.

„Dir geb ich Saures, asoziales Pack!“ sagt er seinen Spruch auf. „Was bist denn du für ein Landsmann? Nicht dass es wichtig wäre, alle Asozialen sind gleich wertlos, da mach ich keine Unterschiede, bin ja kein Rassist, aber ich will es wissen. Jetzt rede! Los, los mach schon!“

„Ich bin Deutscher“, sage ich schnell, in der Hoffnung, dass es mir vielleicht doch ein bisschen was nützt, obwohl natürlich auch mir klar ist, dass Thilo Sarrazin gar kein Rassist sein kann.

„So, so, Deutscher. Hast du ne Badewanne?“

„Ob ich was?“

„Bist du blöde? B-A-D-E-W-Anne. Gibt es so was in diesem Haus oder reibst du dich zur Körperpflege nur mit Knoblauch ein?“

„Eine Dusche, dort“, sage ich und Thilo drängt sich sofort in mein Badezimmer und begutachtet die Duschkabine.

„Ist in Ordnung“, sag er dann, „wollte nur mal kurz nachschauen, ob du Hammelkeulen in der Badewanne lagerst. Kann man ja nie wissen. Die Türken machen das. Das ist keine Satire jetzt, das ist die bittere Realität. Da hätte ich dann erst mal das Gesundheitsamt vorbeigeschickt.“

„Eine ganze Hammelkeule“, lache ich auf, erleichtert, weil ich diesen ersten Test anscheinend bestanden habe, „das wäre zu viel für mich, ich lebe hier allein.“

„Was heißt denn hier eine, mehrere Dutzend sind Usus. Bei 70% der Türken und 90% der Araber ist das so.“ Kopfschüttelnd fährt er fort: „Du hast keine Ahnung, was sich hier abspielt, oder? Dich hat so eine zugezogene 68er-Schlampe auf die Welt gebracht, habe ich recht?“

„Na ja, also Schlampe würde ich so jetzt nicht sagen“, verteidige ich tapfer die Ehre meiner Mutter, „und mit den 68ern hat sie auch eher nur so von weitem sympathisiert.“

„Große Scheiße“, stöhnt Thilo auf, „so eine! Aber die beiden Schüsse eben, die hast du gehört?“

Ich nicke zaghaft.

„Das war der Herr Reinhardt. Sympathischer alter Herr, ehemaliger Wehrmachtsoffizier. Vier arabische Jugendliche hatte er gegen sich. Wie die Daltons aufgereiht standen sie in ihrem Halloween-Horror-Aufzug vor seiner Wohnung. Er hat sie alle erwischt. Mit einem einzigen Schuss durch die Tür. Er sah keine andere Möglichkeit mehr. Es war Notwehr. Mit dem zweiten Schuss hat er sich selbst gerichtet. Herr Reinhardt hatte seit über 64 Jahren kein Kind mehr getötet. Was ist nur aus dieser Stadt geworden?“

„Das … das stimmt wirklich, was Sie da erzählen?“

„Quatsch, war ein Scherz, Mann! Manchmal klopp ich halt gerne mal ein paar lustige Sprüche. Ihr kennt mich doch. Ich bin nicht so ein dröger Berufspolitiker. Kann sein, dass mir auch die ein oder andere Formulierung mal nicht so ganz glückt.

Das sind natürlich nur Sylvesterböller. Die Türken und die Araber kennen sich ja nicht so aus mit unserer westlichen Kultur. Wenn Halloween ist, denken sie, es ist Sylvester, und wenn Sylvester ist, denken sie, es ist Krieg. Auf 90% der Araber trifft das zu. Es ist eben ganz schön bescheuert, Leute aus Kriegs- oder Krisengebieten hier nach Deutschland einwandern zu lassen, typische Gutmenschenidee so was. Muss man abstellen. Besonders, wenn die Leute aus den Krisengebieten, was ihre ganze Kultur und was ihre Gene angeht, eher …“ Er unterbricht sich und mustert mich misstrauisch. „Du bist aber wirklich richtiger Deutscher, ja? Nicht etwa vielleicht Ost-Jude?“

„Nein, ganz bestimmt nicht“, versichere ich ihm.

„Na gut“, meint er, „siehst auch nicht so aus. Da muss man nämlich vorsichtig sein. Der ist schlau der Ost-Jude, 15% höherer IQ als der Deutsche sogar. Da muss man schon aufpassen, was man sagt. Habe ich ja nichts gegen, wenn einer schlau ist, im Gegenteil, solche Einwanderer hätte man ja gerne, aber Vorsicht, trau ihnen nicht so einfach über den Weg. Du verstehst mich schon. Los, zieh dir deine Jacke an, wir gehen jetzt raus.“

„O mein Gott, im Dunkeln, an Halloween, in meinem Problemviertel“, entfährt es mir, „das kann doch nicht Ihr Ernst sein!“

Aber Thilo meint es bitterernst. Er will mich mit den harten Realitäten konfrontieren, vor denen ich schon viel zu lange die Augen verschließe und in meinem tiefsten Innern weiß ich, dass er recht hat. Er stößt mich vor sich her auf die Straße. Ich habe Glück, die Sylvesterböllerer sind schon vor einiger Zeit vorbeigezogen und offenbar kommen zunächst erst mal keine weiteren nach. Thilo macht mich auf einen Mann und eine Frau auf der gegenüberliegenden Straßenseite aufmerksam, die sich offenbar auf türkisch unterhalten. Der Mann hält einen billigen Schokoladenadventskalender in der Hand. „Siehst du das? Sie können kein Deutsch, unterjochen ihre Frauen nach alten islamischen Riten, aber das christliche Weihnachtsfest, das wird natürlich groß mitgefeiert. Auf 70% der Türken trifft das zu.“

Ich versuche Thilo ein wenig nach dem Mund zu reden: „Und natürlich die billigsten Kalender mit der billigsten Schokolade. Und dann kommen diese Gören in den Kindergarten, 20 Kilo Übergewicht und haben schon keinen einzigen gesunden Zahn mehr im Mund. Von Anfang an vollgestopft mit Billigfraß.“

„Hehe, da kommt dir glatt der Matetee hoch, was?“ keckert Thilo gut gelaunt und wird dann doch dieses eine Mal unnötig polemisch: „Zieh du doch mal besser auf den Prenzelberg.“

Ich sage nichts mehr. Fürs Sprücheklopfen ist hier eindeutig nur einer zuständig, und das bin nicht ich. Auf dem Nettelbeckplatz sitzen ein paar wenige Gestalten in der Kälte auf den Bänken. Ich weiß nicht, ob ihre Gespensterhaftigkeit Verkleidung ist, und ich will es auch nicht wissen.

„Weißt du, was hier im Sommer los ist?“ fragt Thilo. „Wie die ganzen türkisch-arabischen Jugendgangs hier vor der Spielhölle auf den Bänken abhängen.“

„Ja“, sage ich leise. „Ich habe gesehen, wie sie da ihre Mathehausaufgaben gemacht haben.“

„Anstatt dass sie erst mal ordentlich Deutsch lernen!“ ruft Thilo erregt aus. „Stattdessen Wahrscheinlichkeitsrechnung, für die Spielhölle wahrscheinlich. Muss ich mir aber notieren“, murmelt er leise zu sich selbst, „keine produktive Funktion außer für Spielhöllen – 70% der Türken, 90% der Araber.“

Und dann wieder laut zu mir: „So und jetzt hol mir mal ne Flasche Bier, sonst streik ich hier!“

„Das war jetzt nur ein Zitat?“ frage ich hoffnungsvoll.

„Ja klar, von Stalin“, raunzt er mich an. „Los, geh Bier holen!“

Es ist ein übler Test, den Thilo mir hier abverlangt. Ich habe sofort gesehen, dass es sich um einen islamistischen Fundamentalistenladen handelt, der keinen Alkohol verkauft.

„Nein, Bier haben wir leider nicht“, sagt der junge Mann hinter der Theke. „Tut mir leid.“ Erleichtert verlasse ich die Brutstätte des Moslemterrors unverletzt.

„Schwein gehabt, was?“ feixt Thilo. „Oder besser gesagt, kein Schwein, sondern irgend ein anderes Tier, was bei denen nicht als unrein gilt. Es ist eine Schande, wie die unsere Kultur verachten. 90% der Islamistenkioske, wo einem Ungläubigen, der dort Bier kaufen will, nicht gleich die Kehle aufgeschlitzt wird, sind Tarnunternehmen von Al Quaida, die müssen sich natürlich unauffällig verhalten. Die meisten Moslemkioske verkaufen sogar Bier“, erläutert Thilo weiter, „70%, weil sie bigotte Heuchler sind und 90%, weil sie wollen, dass alle Ungläubigen Alkoholiker werden.“

Sein profundes Wissen beeindruckt mich. „Und das lässt sich alles empirisch belegen?“ frage ich staunend.

„Empirisch belegen!“ schnaubt Thilo verächtlich. „Deinen Arsch kannst du dir empirisch belegen! Wie soll das denn gehen? Widerlegen sollen die mir das erst mal. Wer als Moslem hier unsere Gastfreundschaft in Anspruch nimmt, ist da in der Bringeschuld, verstehst du?“

„Ja, ist ja logisch“, pflichte ich ihm bei. „Wir können es uns wirklich nicht leisten, weiterhin so gutgläubig zu sein.“

„So sieht das aus, Junge. Und jetzt gehst du mit mir durch den Humboldthain.“

„Aber … aber“, stottere ich, „es ist doch schon dunkel und im Internet steht, dass man das im Dunkeln nicht machen kann, weil es gefährlich ist.“

„Exakt. Und welche Ethnien sind das, die dafür sorgen, dass es dort gefährlich ist. Das spricht man mal besser nicht öffentlich aus.“

Schwach protestierend folge ich Thilo auf einen unbeleuchteten Parkweg. Es riecht nach Gras, nach Gras zum Rauchen natürlich. Der Geruch kommt von zwei Gestalten, die auf einer Bank sitzen. „Bete, dass es Türken sind“, flüstert mir Thilo zu, dann wird die Begegnung nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 70% tödlich.“

Es sind offenbar Türken. Sie beachten uns nicht weiter. Die Droge hat sie apathisch gemacht. Schweigend laufen wir durch den Park. Nichts ist zu hören und zu sehen. Dann plötzlich kommen zwei Schatten in schnellem Tempo auf uns zu.

„O nein!“ zum ersten mal meine ich wirklich Angst in Thilos Stimme zu hören. „Das sind welche von drüben“, krächzt er heißer.

„Von wo?“

„Jogging-Weiber aus Prenzelberg. Die machen alle Kampfsport. Alle Kampfsportarten, die es gibt. Die zerren dich in die Büsche, vergewaltigen dich, schneiden dir die Eier ab und … Steh doch nicht rum, Junge, renn! Renn weg, schnell!“

In wilder Panik fliehen wir. Es hält uns nichts mehr auf den Wegen, wir nehmen die Abkürzung querfeldein über die weite Rasenfläche. Plötzlich höre ich Thilo neben mir laut aufschreien.

„Aaaargh, mein Knöchel, aaargh, verdammt!“ Er ist in ein Loch im Boden getreten, was in der Dunkelheit natürlich nicht zu sehen war. Es ist gefährlich im Dunkeln durch den Humboldthain zu laufen. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, hier ist er.

„Sieh zu, dass wenigstens du durchkommst, mich kannst du nicht mehr retten, Junge“, zeigt Thilo kurz vor seinem Ende wahre Größe. Ich stehe da wie angewurzelt, nicht fähig mich zu rühren. Dann löst Sarrazin sich in Luft auf, und auch der Park verschwindet.

Ich sitze bei mir in der Wohnung am Küchentisch. Langsam wird mir klar, dass das nicht der echte Thilo Sarrazin gewesen sein kann. Es war offensichtlich nur ein Geist. Damit hätte ich an Halloween eigentlich rechnen müssen. Ich denke an Dickens Weihnachtsgeschichte und frage mich, ob mir noch mehr solche Geister bevorstehen. Doch ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie sich dieser Schrecken noch steigern lassen sollte. Da klopft es an der Wohnungstür.

Was auch immer es sein mag, ich reiße die Tür auf. In zwei Metern Abstand, schon halb auf dem Treppenabsatz nach oben steht ein schwarzhaariger Junge im Grundschulalter. Ich glaube, er wohnt zwei Etagen über mir. Hastig rattert er seinen Spruch herunter: „Süßes oder Saures!“

„Hab nichts Süßes“, sage ich.

Er dreht sich um und rennt schleunigst die Treppe hoch.

„Ja hau doch ab!“ rufe ich ihm hinterher. „Geh doch zu deiner Kopftuchmama, die Blagen wie dich am Fließband produziert, damit wir alle islamisiert werden und weil es für jeden neuen Bastard wie dich wieder mehr Geld vom deutschen Staat gibt!“

Dann knalle ich die Tür hinter mir zu. Das hier ist einfach zu hart für mich. Ich werde aufs Land ziehen, irgendwo nach Bayern oder Baden-Württemberg. Da soll es schön sein.