Mein erster Roman

Ich sitze in meinem Kinderzimmer auf dem Schrank. Wobei, „mein Kinderzimmer“ stimmt nicht ganz. Es ist das Kinderzimmer von mir und meiner Schwester. Meine Schwester ist zwei Jahre jünger als ich, aber mutiger. Mama nennt sie gern Anna die Mutige nach der mutigen und klugen kleinen Schwester vom Kleinen Vampir. Der Vergleich verletzt mich. Denn wenn sie Anna die Mutige ist, dann bin ich ihr Bruder Rüdiger – ein Angeber, der sie immer vorschickt, wenn es gefährlich wird. Und genauso meint es Mama auch. Wenn sie meine Schwester Anna die Mutige nennt, will sie mir damit sagen, wie ängstlich ich bin – große Klappe, nichts dahinter, typisch Junge eben. Ich finde meine Schwester auch mutiger als mich. Ich hoffe nur, sie bemerkt es nicht. Doch wenn Mama mit ihrem Anna-die-Mutige-Gerede weitermacht, ist das sicher nur noch eine Frage der Zeit. Trotzdem, ich bin und bleibe immerhin der Ältere. Ein paar wenige Vorrechte ergeben sich daraus. Zum Beispiel darf ich im Hochbett oben liegen. Und vom Hochbett aus kann ich auf den Kleiderschrank klettern. Dort sitze ich jetzt.

Ich sitze gern auf dem Schrank. Einmal weil es schön staubig ist, dann weil das Zimmer von so weit oben so anders aussieht und sich vor allem anders anfühlt. Wenn ich zu lange unten sitze, denke ich manchmal, ich bin nur ein Gegenstand in diesem Zimmer wie der kleine Ikea-Hocker, die lange Schreibtischplatte, die ich mir mit meiner Schwester teile (wobei ich als der Ältere den Platz am Fenster beanspruche), die beiden Klemmlampen an den Regalbrettern darüber, das Bücherregal oder meine rotweiße Schulmappe. Auf dem Schrank fühlt es sich nicht so an. Außerdem kann man vom Schrank runterspringen. Das macht Spaß und das macht Krach und der ärgert Mama. Übrigens glaube ich, dass sie mehr als der Krach ihre eigene Angst ärgert, ich könnte mich beim Runterspringen verletzen. Um vom Schrank zu springen, bin ich nämlich gerade noch mutig genug. In Wahrheit bin ich also immer noch mutiger, als Mama das recht ist.

Jetzt springe ich aber nicht, ich sitze. Ich sitze auf dem Schrank und denke über meinen ersten Roman nach. Er soll hundert Seiten haben. Ich habe einen nagelneuen Block mit hundert Blatt Din/A4-Papier und ich habe mir vorgenommen, jede Seite davon zu beschreiben. Ich weiß zwar noch nicht genau womit, doch ich habe schon überall unten links mit Filzstift eine Zahl geschrieben, von 1 bis 100, und es sind wirklich genau 100 Seiten im Block. Der schwarze Filzstift hat leider nur bis Seite 39 gereicht, dann war er leer und ich musste mit Braun weitermachen. Außerdem habe ich die 64 versehentlich zweimal geschrieben. Das fiel mir erst ganz zum Schluss auf, als nach der 99 keine Seite mehr übrig war. Zuerst dachte ich, die Hersteller des Papierblocks hätten mich um eine Seite betrogen, aber dann bin ich meine Seitenzahlen noch einmal durchgegangen und entdeckte meinen Fehler. Ich hätte fast geheult. Ich hatte mir vorgestellt, dass mein Buch wirklich schön werden würde, ich hatte extra Mama gebeten, mir einen neuen Block Papier mit 100 Seiten zu kaufen, ich hatte ihr extra nicht verraten, wofür ich ihn haben wollte, weil mir mein Plan, ein Buch zu schreiben, so wichtig erschien, dass ich irgendwie gar nicht darüber sprechen wollte, und jetzt konnte ich die letzten 36 Seiten des Blocks wegwerfen. Eigentlich konnte ich sogar den ganzen Block wegwerfen, denn mein Buch sollte 100 Seiten haben, das war ja gerade der Sinn der Sache und außerdem war es das einzige, was ich selbst bisher über mein Buch wusste. Ich versuchte, die falschen Seitenzahlen mit dem Tintenkiller zu löschen. Aber außer dass der Filzstift verschmierte und das Papier sich zu wellen begann, bewirkte er nichts. Schließlich strich ich die zweite 64 durch und schrieb 65 daneben, dann strich ich auf der nächsten Seite die 65 durch und schrieb 66 daneben, dann auf der nächsten Seite die 66 und immer so weiter bis ich die 99 durchstrich und 100 daneben schrieb. Es sah scheiße aus und meine Laune war im Keller, aber was sollte ich machen. Ich quälte mich bis zur letzten Seite, war wütend auf mich selbst und haderte gleichzeitig damit, dass ausgerechnet mir so etwas Doofes passieren musste. Aber ich gab es nicht auf. Mein erstes Buch war ein bedeutendes Projekt und ich würde mich so früh nicht entmutigen lassen.

Kurz nachdem ich die falschen Zahlen korrigiert hatte, kam Mama rein und wollte wissen, was ich auf meinem neuen Block denn die ganze Zeit schon so konzentriert Schönes malen würde. Ich mochte ihr eigentlich nicht verraten, was ich tat. Ich hatte sie ganz bewusst in dem falschen Glauben gelassen, ich wolle den Block zum Malen haben und hatte deshalb jetzt ein schlechtes Gewissen. Und sowieso wollte ich irgendwie noch nicht über mein Buch sprechen. Schließlich sagte ich es ihr aber doch. Sie war nicht begeistert:

„Aber dann fang doch erst mal an zu schreiben und schmier da nicht überall schon Seitenzahlen rauf. Das ist doch blöd, wenn du die Seiten nachher für was anderes verwenden willst. Und 100 Seiten vollschreiben, das schaffst du doch nie!“

Ich schmiss den Block mit voller Wucht auf die Schreibplatte, sprang auf mein Hochbett und kletterte auf den Schrank. Sie starrte mich kurz an und verließ dann wortlos das Zimmer.

Ich sitze auf dem Schrank und weiß nicht, was ich schreiben soll. Eigentlich soll es eine Detektivgeschichte werden. Aber jetzt will mir keine richtige Handlung mehr einfallen. Ich denke an einen Zahlencode, mit dem Botschaften verschlüsselt werden. Der Trick würde sein, dass man die Zahlen zum Teil durchstreichen muss, um ihnen eine neue geheime Bedeutung zu geben. Doch an der Frage, wie genau das gehen kann, beiße ich mich fest, sodass ich gar nicht mehr dazu komme, mir Gedanken darüber zu machen, was der Inhalt der verschlüsselten Botschaft sein könnte und ob sich darum herum eine Detektivgeschichte erzählen ließe.

Zu allem Überfluss fällt mir jetzt auch noch der Traum ein, den ich letzte Woche in Reli unvorsichtigerweise erzählt habe. Es war eine Hausaufgabe gewesen, der Klasse von einem Traum, den man gehabt hatte, zu berichten. Das war keine leichte Aufgabe, aber ich wollte unbedingt. Denn ich messe meinen Träumen eine große Bedeutung zu, den normalen Träumen und auch meinen Tagträumen. Träumen ist für mich dasselbe wie nachdenken. Ich kann meine Träume gar nicht richtig unterscheiden von meinen Gedanken. Und meine Gedanken sind sehr wichtig für mich. Ich bin schwächer als die Erwachsenen und ich bin auch schwächer als die meisten Kinder. Ich bin weniger mutig als meine kleine Schwester. Aber niemand hat so große, so reiche Gedanken wie ich. Natürlich weiß ich, dass ich anderen Menschen nicht in ihre Köpfe hineinsehen kann. Aber ich sehe es auch in ihren Gesichtern: Solche Gedanken wie ich hat ganz bestimmt keiner von denen.

Der Traum, den ich erzählen wollte, war ein Alptraum. In dem Traum brannte unser Haus. In dem Traum kam auch ein Mädchen vor, das ich mochte, Katja, die nicht auf meine Schule ging und die keiner meiner Mitschüler kannte. Ich hatte Angst um mich und um sie. Sie war ganz selbstverständlich Teil des Traums und ich bemerkte erst beim Erzählen im Klassenraum, dass ich erklären musste, warum sie dort und wer sie überhaupt war. Und ich bemerkte beim Versuch es zu erklären, dass ich es nicht konnte. Ich begann zu stocken, verhaspelte mich, wollte noch einmal neu ansetzen, da sagte Tarik: „Es ist seine große Liebe. Martin ist verliebt.“
Alle lachten. „Martin liebt Katja!“, riefen sie. Es gab keinen schlimmeren Vorwurf. Ich wollte ihm wütend widersprechen, da fiel mir auf, dass ich auch das nicht konnte. Ich wollte weg. Ich wusste nicht wohin. Ich weinte. Etwas Besseres, um aus der Situation rauszukommen, fiel mir nicht ein. Es funktionierte sogar einigermaßen. Die Reli-Lehrerin sprach in tröstenden Worten zu mir und in tadelnden zu Tarik.

Aus dem Traum könnte ich eine gute Geschichte machen. Aber das würde keine Detektivgeschichte werden. Es gibt einen Namen für solche Geschichten: Liebesgeschichten. Liebesgeschichten sind das allerletzte, was ich jemals lesen würde. Ich komme nicht weiter. Ich springe vom Schrank.

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Dosenthunfisch mit Fladenbrot

Ich habe die Berlinale 2012 hinter mich gebracht und eine historisch-mathematisch-biografische Einordnung tut not: Die Berlinale gibt es seit 62 Jahren. Mich gibt es seit 32 Jahren. Die Berlinale ist also 30 Jahre älter als ich. Vor 2 Jahren war sie genau doppelt so alt wie ich, das ist sie jetzt nicht mehr. In 28 Jahren wird sie nur noch um ein Drittel älter sein als ich. Obwohl sich der reale Abstand in Jahren zwischen uns natürlich niemals ändern wird, ist – wenn wir beide alt genug werden sollten – eine Zukunft denkbar, aus deren Perspektive betrachtet, der Abstand verschwindend gering geworden sein wird. Ich besuche die Berlinale, seit ich 9 bin, also seit 23 Jahren. Damals war die Berlinale 39, also mehr als viermal so alt wie ich, der Abstand zwischen uns schien groß. Das Premierenkino war der Zoo Palast, der Potsdamer Platz war Todesstreifen und meine ersten Berlinale-Kinderfilme sah ich in den Eva Lichtspielen in Wilmersdorf. Sie hießen: Vogelkönig, Zug in den Himmel und Goldregen und beeindruckten mich sehr.

Martin Thoma

Zug in den Himmel spielte in Peru (oder war es Chile?), ein Straßenjunge (oder war es ein Waisenkind?, oder beides?) fuhr als blinder Passagier in einem Zug bis zur Endstation, die sehr weit oben in einem hohen Gebirge (den Aden?) lag. Er hatte sich irgendwie im Freien zwischen den Waggons, dort, wo sie aneinandergekuppelt waren, versteckt. Ich fragte den Regisseur, ob der Junge (ich meinte den Darsteller), diese Fahrt auch in Wirklichkeit so gemacht habe. Heute würde ich anders fragen. Hauptsächlich deshalb, weil ich den Film auch anders erleben würde. Heute würde ich mehr Dinge in ihm sehen, von denen ich glauben würde, sie zu verstehen, und ich würde mich sicherlich nicht mehr so konzentriert und ohne mich ablenken zu lassen mit dem Jungen aus dem Film identifizieren. Schon während ich den Film sehen würde, würde ich ihn in einer Menge in unterschiedlichen Aspekten ähnlicher Filme, die ich gesehen und im Gedächtnis behalten habe, einordnen und im Vergleich zu ihnen bewerten.

Ich bin nicht dumm genug, zu leugnen, dass ich heute in jeder Hinsicht viel mehr mit einem Film anfangen kann, als mir das mit 9 Jahren möglich war. Doch es bleibt die Sehnsucht nach dem naiven Erleben. Sie ist jedesmal wieder da, wenn die Lichter im Saal ausgehen und der Vorspann beginnt. Und jedesmal wieder bleibt nach dem Abspann auch sehr guter Filme dieser Rest Enttäuschung, obwohl ich mich extra weit nach vorne gesetzt habe, den Blick von außen auf die flache Leinwand nie verloren zu haben und eben nicht für die Dauer des Filmes Teil einer fremden Welt geworden zu sein. Mit hektisch halbgarem Kritikergerede sofort beim Verlassen des Kinos lässt sich dieser Enttäuschungsrest nur unzureichend übertünchen.

Ganz selten gibt es Filme, in denen es für Augenblicke doch passiert, dass ich mich vorbehaltlos und unbewusst zum Gefangenen ihrer Bilder mache. Einfach über die Identifikation mit der Hauptfigur geht das nicht mehr, aber irgendwie kann es dennoch geschehen. Eigentlich sind das die Filme, für die ich ins Kino gehe. Auch wenn ich mir oft – und auch mit Vergnügen – Filme ansehe, von denen ich von vornherein weiß, dass sie es nicht sein werden.

Martin Thoma

Zur Berlinale ins Kino gehen, heißt auch, sich in langen Schlangen anstellen und warten. Das stört nicht, denn es macht die Filme wertvoller. Die Filme auf der Berlinale eröffnen ihrem Publikum fremde Welten. Das Publikum, das sie besucht, wendet sich auf seine Weise diesen Welten zu, es ist weltoffen. Der Mann hinter mir in der Schlange gibt in gemütlich schwäbischem Singsang an seine beiden Begleiterinnen Reisewarnungen für das nördliche Afrika aus. Anlass dafür scheint eine Tochter zu sein, die ein bisschen die Welt kennenlernen möchte. Am ehesten gehe wohl noch Tunesien, Marokko sei zu gefährlich, Ägypten im Moment natürlich sowieso, aber auch sonst. Vom restlichen Afrika – im Grunde einem einzigen Kriegsgebiet – ganz zu schweigen. Wenn man in einer Reisegruppe mit einheimischen Führern unterwegs sei, dann ginge Marokko natürlich. Man dürfe eben unter keinen Umständen den Schutz dieser Gruppe verlassen. Besonders als Frau nicht. Eine Frau, alleine unterwegs, sei in diesen Ländern leider immer noch Freiwild. Reisenden jungen Frauen rät er – außer von Afrika – auch dringend von Mittel- und Südamerika ab. Australien und Neuseeland seien gute Alternativen, auch in Asien gebe es noch ein paar Länder, die infrage kämen. Der Mann spricht mit der Autorität des gefragten Experten. Ich höre heraus, dass er einmal Urlaub in Marokko gemacht hat. Neben den Menschen könne dort leider auch das Essen sehr gefährlich werden. Gerade in den touristisch erschlosseneren Gebiete sehe man ihm seinen verdorbenen Charakter von außen tückischerweise oft nicht sofort an. Er und seine Frau hätten dieses Problem bei ihrem Marokkourlaub gelöst, indem sie sich ausschließlich von Dosenthunfisch mit Fladenbrot ernährt hätten. Das sei einigermaßen sicher.

Flughafensee

Raushau-Blog-Leserservice:

Gemäß „Ich-schreibe-wie“-Zertifizierung liest sich folgender Text wie ein Text von Joanne K. Rowling. Na, wenn das nichts ist! Der Text ist (mit Leerzeichen) 5003 Zeichen lang.

Am Ende des Textes befindet sich wieder ein, nein, diesmal sogar zwei Youtube-Links, zu denen gerne auch vorscrollen kann, wer keine Lust auf Lesen hat.

Als brandneuen Leserservice bietet das Raushau-Blog auch eine automatisch vorgelesene Version des Textes an:

Oh, das ist ja ein englischsprachiger Vorleseroboter. Der braucht natürlich auch einen englischen Text zum Vorlesen, damit man ihn etwas besser versteht. Also lasse ich meinen deutschen Text vom Google-Übersetzerroboter in einen englischen umwandeln und erneut vorlesen:

Das ist ja überraschend poetisch geworden. Aber vielleicht suche ich besser doch noch mal nach einem deutschsprachigen Vorleseroboter:

Und jetzt zum Selberlesen:

Hinter dem Wasser liegt die Startbahn. Ich sehe die glänzenden Maschinen vorbeifahren und abheben. Ich bin müde. Kann sein, dass ihr stetiges dumpfes Dröhnen und ihr an- und abschwellendes schrilles Pfeifen einschläfernd wirken. Ich habe mich hinter einer Düne dicht am eingezäunten Vogelschutzgebiet in den Sand gesetzt. Von hier aus sehe ich keine Menschen und obwohl ich ein Stück weiter weg welche plantschen und kreischen höre, bilde ich mir ein, ich wäre mit den Flugzeugen allein.

Der Himmel ist eine blaue Kuppel über Wasser, Sanddünen und Wald, eine Halbkugel über einer im ganzen ziemlich flachen Erde. Auf Bildern der Erde in Schulbüchern und im Internet sieht man, dass sie eine Kugel ist mit dem Himmel als äußere Hülle. Was stimmt wirklich? Ich sollte lieber glauben, was ich mit eigenen Augen hier draußen sehe. Bilder im Internet können gefälscht sein. Das bringen sie einem sogar in der Schule bei. Aber die Bilder, die sie selbst einem zeigen, meinen sie damit natürlich nicht.

Ein Schatten fällt auf mich. Es ist kein Flugzeug. Die Flugzeuge werfen ihre Schatten nicht bis hierher. Es ist Mama. Mama sagt, ich soll aufhören, mit der Plastikflasche gegen die Birke zu schlagen. Ich hatte nicht bemerkt, dass ich das tue. „Bei ALDI gibt es noch 25 Cent dafür. Das waren einmal 50 Pfennig“, behauptet sie vollkommen ernst. „Aber für eine kaputte Flasche gibt es gar nichts.“ Ich lasse die leere Flasche neben mich in den Sand fallen.

„Der geht hoch“, sagt Mama. Es ist ein Airbus 320 von British Airways. Das Dröhnen nimmt kaum zu, während er beschleunigt, nur das schrille, hohe Pfeifen. Ich folge der Maschine mit den Augen, sehe sie steil nach oben steigen und schnell kleiner werden. Ihre Flugbahn wird flacher und bevor sie gegen die Kuppel stoßen würde, fliegt sie parallel zu ihr weiter und ist sehr schnell außer Sicht.

Ich könnte mir das stundenlang angucken, ohne eigentlich etwas Bestimmtes zu denken. Dabei fühle ich mich trotzdem auf eine gute Weise so, als würde ich mir ganz viele Gedanken machen über die Dinge, die wirklich wichtig sind. Warum riesige schwere Maschinen fliegen können, aber ich nicht zum Beispiel, oder warum ich lebe und nicht tot bin. „Träumst du wieder vor dich hin?“, sagt Mama oft, wenn ich auf diese Weise denke. Aber hier am Flughafensee schaut sie genauso den Flugzeugen hinterher. „Träumst du wieder vor dich hin?“, frage ich, um sie ein bisschen zu ärgern, und sie ärgert sich ein bisschen: „Ach Quatsch!“ Im Weggehen sagt sie, dass wir in einer Viertelstunde aufbrechen werden.

Auf einer Boje sitzt ein großer schwarzer Vogel mit einem langen Schnabel. Er hat seine Flügel weit ausgebreitet. Um sie in der Nachmittagssonne des warmen Spätsommertages trocknen zu lassen, nehme ich an. Ich überlege, ob ich noch einmal ins Wasser gehe und versuche zu ihm hin zu schwimmen. Das wäre aufregend, weil es ja ein ziemlich großer Vogel ist und auch kein halbzahmer wie ein Schwan. Er hat eher etwas von einem pechschwarzen Flugsaurier.

Noch ein A 320, diesmal von Air Berlin, startet, während gleichzeitig direkt dahinter eine gerade gelandete McDonell Douglas ausrollt. Bald machen sie den Flughafen zu. Ich weiß nicht, ob wir dann noch hierher kommen werden. Mama sagt, dann wird es bestimmt noch voller werden und dann hätte sie wirklich keine Lust mehr, sich das anzutun. Aber bis dahin wäre ich ja auch groß genug, um alleine mit meinen Freunden zu gehen. Ich werde aber bestimmt nicht mehr kommen, wenn keine Flugzeuge mehr starten. Im Fernsehen haben sie neulich ein paar Anwohner interviewt, die gegen die Schließung sind. „An das Geräusch der Maschinen gewöhnt man sich doch“, hat einer gesagt und ist dann richtig wütend geworden. „Sonst hat man kein Geld, aber für einen neuen Flughafen ist auf einmal welches da. Und auch wenn man schon meint, dass man einen neuen bauen muss. Dann muss man den alten noch lange nicht zumachen. Als ob der nicht mehr gut genug sei.“ Ich bin auch dagegen. Wenn ich erwachsen bin, will ich entweder Koch oder Bundeskanzler werden. Wenn ich Bundeskanzler werde, mache ich den Flughafen wieder auf.

Mama ruft, dass wir losgehen. Ich glaube der schwarze Vogel hat sich die ganze Zeit nicht ein Stück bewegt. Ich habe mal mit einem Freund gewettet, wer am längsten mit ausgebreiteten Armen stehen kann. Er konnte länger. Aber wenn der Vogel mitgemacht hätte, hätte der Vogel locker gewonnen.

Ich stehe auf, drehe mich um und sehe nur noch aus den Augenwinkeln, ein landendes Flugzeug über die Bahn hinausschießen in ein Gebiet, wo ich es nicht mehr sehen kann. Der schwarze Vogel fliegt erschrocken auf und ich höre Hunderte Tonnen Metall zerkrumpeln und Bäume splittern. Es klingt wie nichts, was ich kenne. Zwei Explosionen folgen dicht aufeinander und ich falle zurück in den Sand. Ich weiß nicht, ob es der Schreck ist oder tatsächlich der Druck, der sich einen Augenblick so anfühlt, als käme die Luft als eine Wasserwand auf mich zu. Dann brennt der Wald in einem ähnlichen Orangerot wie die Sonne.