Filme besprechen

Gestern war ich Gast im Kontroversum-Podcast. Das ist ein neuer Podcast, in dem regelmäßig über Filme diskutiert wird. Wir haben uns über die Filme Spring Breakers, The Broken Circle Breakdown, Hai-Alarm am Müggelsee, Paradies: Glaube, Stoker, G.I. Joe 2 und Side Effects unterhalten. Was meine Performance angeht, sehe ich noch Luft nach oben, aber Spaß gemacht hat es auf jeden Fall. Hört doch mal rein: Klick

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Berlinale 2013 — 20 Filme ohne Jason Statham

„Nee, wir sind falsch hier. Hier läuft jetzt wieder nur dieser Berlinale-Scheiß!“, sagt die Mitte 50-jährige Frau im Foyer des Cinemaxx zu ihren beiden männlichen Begleitern. Ihren Gesichtsausdruck als schlecht gelaunt zu beschreiben, wäre eine Untertreibung. Hasserfüllt trifft es eher. Ich gehe davon aus, dass sich der Hass nur in zweiter Linie gegen die auf dem Filmfestival gezeigten Filme richtet. In erster Linie richtet er sich gegen ihre Besucher, also auch gegen mich, der in Hörweite mit einem Programmheft in der Hand vor ihr steht. „Nee, den neuen Statham könnwa hier nicht sehen wegen dem Scheiß.“ Weil sie und ihre Begleiter gegenüber dem Berlinale-Publikum eindeutig in der Minderheit sind, verlassen sie das Foyer ohne weitere Worte und ohne mich oder jemand anderen zusammenzuschlagen.

Normalerweise sind sie nicht in der Minderheit. An 355 von 365 Tagen des Jahres stellen die Statham-und Stallone-Freunde auch hier im Cinemaxx am Potsdamer Platz die Mehrheit und nicht nur in fast allen Videotheken und verbliebenen Kinos im Rest der Welt. Die Filme, die sie sehen wollen, sind es, für die enorme Summen ausgegeben werden. Viele andere Filme, von denen manche auf der Berlinale laufen, sind, obwohl sie mit minimalem technischen Aufwand gemacht werden, nur möglich, weil sich alle Beteiligten selbst ausbeuten. Ins Kino kommen diese Filme sonst eher nicht.

Die Mehrheit weiß: ein guter Film muss unterhalten. Das ist alles. Punkt. Mehr gibt es nicht zu verstehen. Das braucht man auch nicht weiter zu erklären.

Trotzdem sind die Statham-Freunde wütend. Leise wütend, wenn sie sich versehentlich in ein Berlinale-Kino verirren, lauter, wenn sie sich in den Internetforen der großen Tages- und Wochenzeitungen über die Berlinale auslassen. Denn dass es gerade letztere Filme sind, die auf der Berlinale gezeigt und gefeiert werden, stellt aus ihrer Sicht die Provokation einer Minderheit dar, einer Minderheit, die sich in ihrer grenzenlosen Arroganz als etwas Besseres fühlt. Zur Berlinale blockiert sie die besten Kinos der Stadt, nur um sich darin durch Filme zu quälen, von denen jeder normal denkende Mensch weiß, dass sie unbeschreiblich langweilig sind. Und dabei kommt sich diese Minderheit werweißwie toll vor. Aber nur dass diese Minderheit vielleicht mehr Filme gesehen hat, darüber klugscheißende Gespräche führt, schreibt oder gar Bücher liest, heißt aus Sicht der Mehrheit noch lange nicht, dass sie Ahnung hätte oder gar irgendetwas begriffen. Die Mehrheit weiß nämlich alles, was man über Filme wissen muss, auch so. Und weil sie die Mehrheit ist, liegt sie damit automatisch richtig. Die Mehrheit weiß: ein guter Film muss unterhalten. Das ist alles. Punkt. Mehr gibt es nicht zu verstehen. Das braucht man auch nicht weiter zu erklären. Unterhalten tut immer das, was man schon kennt und was einem noch Spaß macht, wenn man müde ist und nicht in der Stimmung sich mit Problemen belästigen zu lassen, von denen man glaubt, dass sie einen gar nicht betreffen.

Die Berlinale boomt. 2013 waren fast alle Vorführungen ausverkauft. Die Minderheit, die hier einmal für 10 Tage im Jahr zusammenkommt, ist groß und heterogen. Doch sie sollte besser nicht vergessen, dass sie eine Minderheit bleibt. Eine Minderheit, die sich nicht beklagen braucht – viele Minderheiten haben Schlimmeres zu ertragen als mal ein paar wütende Blicke im Foyer eines Kinos. Aber eben doch eine Minderheit: von den meisten ignoriert, von manchen als störend empfunden, von einigen wahrscheinlich sogar gehasst. Einfach deshalb, weil sie eine Minderheit ist.

Seit 1989 war ich bei jeder Berlinale. Dieses Jahr habe ich – eigentlich ohne dass ich mir das vorgenommen hätte – besonders viele Filme gesehen; wenn ich mich nicht verzählt habe, insgesamt 20. Ich möchte sie hier festhalten. Für mich, denn 20 Filme in 10 Tagen muss man irgendwie festhalten, sonst entgleiten sie einem. Und für den Rest der Welt, denn einige der Filme werden wahrscheinlich nie mehr in einem (deutschen) Kino zu sehen sein.

Das Filmteam „is not in town yet“. Ob sie noch kommen?

Mein erster Film war ein seltsam holpriger Einstieg. Burn it up Djassa von Lonesome Solo (Sektion: Panorama) wurde laut Programmheft von einem Filmteam aus dem Armenviertel Wassakara in der Elfenbeinküste kurz vor Ausbruch des Bürgerkriegs gedreht. Das Filmteam war – anders als bei der Berlinale üblich – bei der Vorführung nicht anwesend. „Warum nicht?“, rief eine Frau aus dem Publikum. „They’re not in town yet“, lautete die lapidare Antwort. Ob sich daraus schließen lässt, dass sie bei der zweiten Vorführung anwesend waren? Es wäre nicht das erste Mal, dass Filmemacher aus der dritten Welt nicht über die deutsche Grenze kommen. Der Film hatte offensichtlich absolut kein Budget – woher sollte er auch? Die Geschichte über eine Familie im Armenviertel, in der das Oberhaupt – der ältere Bruder – Polizist ist, der jüngere Bruder in die Kriminalität abgleitet und die Schwester sich prostituiert, ist sehr simpel gestrickt und klischeehaft. Für eine gewisse Spannung sorgt ein Erzähler, der sich als Herrscher des Ghettos ausgibt und den Verlauf der Handlung als Erzählung vorwegnimmt, wobei das, was er sagt, nicht immer so ganz mit dem übereinstimmt, was man dann hinterher sieht. Ein komplexes Spiel mit der Relativität von verschiedenen „Wahrheiten“ ist es dann aber doch nicht, genauer gesagt: ist es überhaupt nicht.

Ein absurder Wiedergänger des sowjetischen Totalitarismus

Mein zweiter Film am ersten Tag Chemi sabnis naketsi, englischer Titel: A Fold in My Blanket (Sektion: Panorama) ist filmisch und erzählerisch ungleich komplexer. Regisseur Zaza Rusadze studierte in Babelsberg, bevor er für diesen Film in sein Herkunftsland Georgien zurückkehrte. Passenderweise ist auch die junge männliche Hauptfigur aus dem Ausland in eine georgische Kleinstadt zurückgekehrt. Allerdings ist das keine reale Stadt zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt, sondern eine Stadt in einer möglichen nahen Zukunft, in der sich wieder ein totalitäres System herausgebildet hat, das wie ein absurder Wiedergänger des sowjetischen Totalitarismus aussieht. Die Hauptfigur freundet sich mit einem anderen jungen Mann an, der auf eher kindisch-trotzige Weise ein wenig gegen das System rebelliert und später wegen Mordes angeklagt wird. Die Hauptfigur könnte ihm ein Alibi verschaffen, weil zum Tatzeitpunkt beide gemeinsam auf Klettertour in den Bergen waren. Doch der Freund streitet die Aussage, die ihn retten könnte, einfach ab. Die Hauptfigur zweifelt nun selbst immer mehr an ihren Erinnerungen. Warum sollte sein Freund lügen? Ein möglicher Grund wird nicht erzählt, aber angedeutet: Die beiden Männer könnten sich an diesem Tag auch sexuell nähergekommen sein, als der angeklagte zuzugeben wagt. A Fold in My Blanket mischt in einer von untergründiger Spannung getragenen Atmosphäre einige schön lakonisch erzählte Absurditäten mit surrealen Momenten und ein bisschen zu viel Symbolismus. Dabei setzt er die georgische Gebirgslandschaft in prächtigen Bildern in Szene.

Ein faschistischer Aufmarsch, der für mich wie Karneval der Kulturen aussieht

Der zweite Tag begann für mich mit einem Dokumentarfilm von 1986 aus Indien, den die Forum-Sektion als „film-politische Pionierarbeit von aktueller Relevanz“ ins Programm genommen hat: Kya hua is shahar ko? (englischer Titel: What Happened to this City?) Es geht um Ausschreitungen zwischen Hindus und Moslems im Jahr 1984. Der Film ist ein sehr dichtes, hartes, relativ ungefiltertes historisches Dokument. Das Filmteam war zum Zeitpunkt der Ausschreitungen direkt vor Ort. Regisseurin Deepa Dhanraj lässt Opfer und religiös-politische Aufhetzer beider Seiten ausführlich zu Wort kommen. Dennoch hielt sich der Erkenntnisgewinn bei mir persönlich in sehr engen Grenzen. Aber etwas ist dann doch hängen geblieben: Ein faschistischer Aufzug in Indien ist für meine europäischen Augen erst einmal kaum von einem Karneval der Kulturen zu unterscheiden – alles so schön bunt und exotisch. Das bestätigt mich immerhin in meiner tiefen Abneigung gegen jede Art von Karnevalsumzügen.

Gruppenbild mit verbrannter Leiche

Der japanische Jugendfilm Capturing Dad von Ryota Nakano lief in der Sektion Generation 14plus. Zwei Schwestern, die eine 17, die andere 20 Jahre alt, leben zusammen mit ihrer Mutter, die sich vor Jahren von ihrem Mann getrennt und ihm jeden Umgang mit seinen Töchtern verboten hat. Sie kennen ihren Vater nur aus frühesten Kindheitserinnerungen. Als die Mutter erfährt, dass er im Sterben liegt und sie gern noch einmal sehen würde, bleibt sie selbst zuhause, schickt aber ihre Töchter. Mit einer kleinen Digitalkamera sollen sie ihn fotografieren, denn sie möchte dem Bild ihres sterbenden Ex-Mannes zum Abschied ins Gesicht lachen können. Der im leichten Tonfall einer Komödie erzählte Film hat mich einigermaßen unterhalten. Oft wurde es mir dann aber auch zu albern. Eine bestimmte Art von Gags funktioniert richtig gut – vermute ich mal – nur in einer Gesellschaft wie der japanischen, in der Verstöße gegen Etikette und zahlreiche formale Vorschriften gesellschaftlichen Umgangs wahrscheinlich noch viel größere Tabubrüche darstellen als hierzulande. (Wobei man natürlich auch in einem deutschen Krematorium eher kein Gruppenbild mit verbrannter Leiche machen würde.) Was mir an dem Film außerdem auf die Nerven ging, war die für meinen Geschmack zu stark ausgestellte Kleinmädchenniedlichkeit der beiden dann doch nicht mehr ganz so kleinen jungen Frauen. Positiv hervor sticht der ambivalente Charakter der Mutter. Die stärksten Szenen des Films sind dann auch die, in denen Mutter und Töchter zusammenspielen.

Sonne, Wolken, Wind und Schuld

Fynbos (Sektion: Forum) von Harry Patramanis, mein dritter Film an diesem Tag. Fynbos heißt ein modernes, nicht ganz fertiggebautes Haus, das auf einem riesigen Privatgrundstück bei Kapstadt inmitten einer fantastischen Landschaft steht. (Wieso das Haus diesen Namen trägt, weiß ich auch nicht.) Die armen Townships von Kapstadt grenzen fast direkt an das kleine Privatparadies. Aus dem Bewusstsein der reichen weißen Protagonisten des Films lässt sich die offenbare, aber auf dem Grundstück völlig unsichtbare Ungerechtigkeit nicht ganz tilgen, ebenso wenig aus dem Bewusstsein von mir als Zuschauer. In den unsagbar schönen Aufnahmen dieses Ortes schwingt zu jeder Zeit eine Atmosphäre von Schuld und Bedrohung mit. Hinter den Glasfassaden des Hauses agieren drei Paare miteinander: Der Immobilienmakler, der das Haus unbedingt verkaufen muss, weil er sich für seinen großkotzigen Lebensstil verschuldet hat, und seine Frau, die ihm das durch ihr unberechenbares Verhalten sehr schwer macht. Neben diesen beiden ein Käuferpaar aus England und der Sohn des Architekten mit seiner Freundin, die es sich als Zwischennutzer in dem Traumhaus gemütlich gemacht haben. Vor allem zwischen dem Immobilienmakler und seiner Frau bestehen Spannungen, die sich mehr und mehr auch auf die anderen Anwesenden übertragen. Ist der Mann ein Gewalttäter oder gibt es andere Gründe für die tiefe Verstörtheit der Frau und die Texte, die sie in ihr Tagebuch schreibt? Als sie dann plötzlich verschwindet, schaltet sich auch die Polizei ein. Fynbos hat mir sehr gut gefallen wegen der Atmosphäre in seinen Bildern. Wegen des Hauses, wegen der Landschaft, wegen der Sonne und der Wolken, wegen des Lichts, der Spiegelungen, der Bäume und des Wassers und wegen des Windes, vor allem wegen des Windes. Regisseur Patramanis nennt Antonioni als sein großes Vorbild – das kommt schon hin.

Die Kinder aus Bullerbü mitten im Nichts

Ödland – Damit keiner das so mitbemerkt, ein Dokumentarfilm aus Deutschland und über Deutschland, der in der Kindersektion Generation Kplus lief (Damit keiner das so mitbemerkt?). Regisseurin Anne Kodura und Kameramann Friede Clausz zeigen hier so etwas wie die Kinder aus Bullerbü mitten im Nichts, und thematisieren damit den seit rund zwei Jahrzehnten in diesem Land erfolgreich verdrängten Skandal des deutschen Asylrechts. Der Film begleitet eine Gruppe Kinder im Grundschulalter aus drei Flüchtlingsfamilien durch ihre Sommerferien – die Kamera immer auf Augenhöhe. Der Film ist schwarz-weiß. Kein dreckiges Schwarzweiß, sondern ein strahlendes, glänzendes, das die Atmosphäre eines heißen, trägen Sommers in überzeitlichen Bildern einfängt. Die verfallene Kaserne, in der sie untergebracht sind, steht im mitteldeutschen Nichts: Wald, Wiesen, kaputte Gebäude hinter Stacheldraht, die Endhaltestelle, an der ein leerer Bus wendet, wilde Schrottplätze, Windräder und immerhin auch irgendwo in Reichweite ein See mit einer Badestelle. Im unbeeinflussten Spiel und in den Gesprächen der Kinder schwingt ein Gefühl von Freiheit mit, doch es überwiegt die Langeweile und das Verlorensein in Leere und Heimatlosigkeit – faktisch sind diese Kinder Gefangene. Einige Kinder wurden noch in den Heimatländern ihrer Eltern geboren, andere in Deutschland. Im Abspann des Films werden im einzelnen die Zahlen aufgeführt, wie viele Jahre die Familien schon ohne sicheren Aufenthaltsstatus im deutschen Ödland wohnen. Die Zahlen sind teilweise zweistellig. Kleiner Hinweis der Regisseurin im Publikumsgespräch nach dem Film: Die vor sich hin rottende Kaserne, in der die Flüchtlinge untergebracht sind, wird privat betrieben. Es gibt Menschen, die damit Geld verdienen. So hat eben doch alles auch seine positiven Seiten für irgendjemanden.

Ein Heulkrampf im rosanen Kleid

Während mir die Bilder von Ödland gar nicht aus dem Kopf wollen, habe ich Maladies von Carter, dem Regisseur ohne Vornamen (Sektion: Panorama) schon fast wieder vergessen. Dabei war der Film doch so um starke Bilder bemüht: Breitwandaufnahmen von einem leeren Strand, eine Villa in schickem 50er-Jahre-Dekor (oder waren das schon die 60er?), Schauspieler mit einprägsamen Gesichtern – und doch irgendwie auch alles egal. Die Geschichte um drei gesellschaftliche Außenseiter wirkt konstruiert, aber unentschlossen und viel zu geschwätzig. Am Ende bleibt mir nur der künstliche Heulkrampf einer Nebendarstellerin nach dem Film auf der Bühne des Friedrichstadtpalasts in Erinnerung, mit dem sie bestimmt ihre große Begeisterung ausdrücken wollte, bei der Berlinale über einen roten Teppich gelaufen zu sein. Und ihr schreiend rosanes Kleid natürlich, das werde ich nicht vergessen.

Beiläufig, ohne falsche Töne und Klischees

I Used to Be Darker (Sektion: Forum) vom us-amerikanischen Independent-Filmemacher Matt Porterfield konnte mich dann wieder vollkommen überzeugen. (Dabei hatte ich mit dem nicht uninteressanten Vorgänger Putty Hill, der vor ein paar Jahren auch auf der Berlinale lief, ziemliche Probleme.) Eine junge Frau aus Nordirland hat es in die USA verschlagen. Unangekündigt steht sie bei Onkel, Tante und Cousine in Baltimore vor der Haustür und quartiert sich dort ein. Der Zeitpunkt könnte ungünstiger kaum sein, denn die Ehe von Onkel und Tante ist am Ende und sie befinden sich gerade im Prozess ihrer Trennung. Was sie außerdem nicht wissen, ist, dass die junge Frau von zuhause abgehauen ist und ihre Eltern keine Ahnung haben, wo sie sich aufhält. Der Film erzählt diese nicht sonderlich ungewöhnliche Geschichte auf beeindruckend beiläufige Weise, ganz ohne falsche Töne, Klischees, dramaturgische Zuspitzungen, aber mit einem extrem genauen Blick auf seine Figuren und ihre persönlichen emotionalen Nöte. Onkel und Tante sind übrigens beide Musiker und Matt Porterfield hat ihre Rollen nicht mit Schauspielern, sondern mit Musikern besetzt. Ganz nebenbei ist ihm so mit I Used to Be Darker auch ein fantastischer Musikfilm gelungen, der insbesondere die große Kunst der Singer-Songwriterin Kim Taylor grandios in Szene setzt.

Zu erzählen hat er: nullkommanichts

Der Montag war mit zwei Filmen, die mir sehr wenig gesagt haben, mein persönlicher Durchhängertag. Nummer eins, mein erster und einziger Film aus dem Wettbewerb, der dann auch noch irgendwas gewonnen hat, fragt mich nicht wieso: Vic+Flo ont vu un ours (Vic+Flo Saw a Bear). Falls sich jemand schon beim Titel fragen sollte, warum da ein Plus steht und nicht einfach ein Und (bzw. et/and), ist sicher im falschen Film. Das Plus steht da eben, weil es cool ist. Das gleiche gilt für den Bär, der kommt im Film nämlich auch nicht vor, dafür – vorsicht ich spoilere jetzt! – geraten seine beiden Protagonistinnen in eine Bärenfalle, weil das mal ein cooler Regieeinfall ist. In solchen gefällt sich Regisseur Denis Cote nämlich und darin, nur Figuren zu zeigen, die wie ihr eigenes Klischee durch den Film laufen, was sicherlich irgendeine Verbeugung vor irgendeinem coolen, trashigen Genrekino ist und deshalb eben auch cool. Nur zu erzählen hat er leider nullkommanichts.

Preis: Alfred-Bauer-Preis (Silberner Bär)

Unterkühlte Sprache, die sich vergeblich um lakonische Komik bemüht

Auch Das merkwürdige Kätzchen, die Abschlussarbeit des Schweizers Ramon Zürcher aus der Babelsberger Filmklasse des großen Belá Tarr hat mich eher genervt als begeistert. Zugegeben ist der fast ausschließlich in einer Berliner Altbauwohnung gedrehte Film technisch-formal brillant. Auf engstem Raum bewegt sich eine recht große Familie mit Hund, Katze, Kindern und eintreffendem Besuch vor der Kamera, dass es beinahe wie zufällig aussieht, nur eben besser, denn es ist perfekt geplant und choreografiert. Dabei bewegen sich alle Figuren in anderen Geschwindigkeiten, manche sind besonders quirlig, manche eher lethargisch und die Großmutter liegt als Running Gag die ganze Zeit über schlafend in ihrem Zimmer. Das Problem ist nur: Sie agieren unterschiedlich, aber sie reden (fast) alle gleich. In dem Gerede erkennbar werden bloß langweilige Durchschnittsneurosen, die eigentlich alle die Neurosen einer einzelnen Person sein könnten (ich verdächtige den Regisseur und Drehbuchschreiber, aber das weiß ich natürlich nicht). Sie werden in gekünstelt unterkühlter Sprache vorgetragen, die sich angestrengt und vergeblich um so etwas wie lakonische Komik bemüht.

Der Tanz in der stärksten Szene ist ein traditioneller Männertanz

Am Dienstag habe ich dann meinen zweiten georgischen Film gesehen, womit ich das Kino dieses kleinen, nicht sehr reichen Landes, wie es dieses Jahr auf der Berlinale vertreten war, komplett gesehen hätte: Grzeli nateli dgeebi (In Bloom) von Nana Ekvtimishvili und Simon Groß lief in der Sektion Forum. Auch dieser Film ist eine Produktion mit deutscher Beteiligung. Er spielt im Georgien der frühen 90er Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und erzählt die Geschichte von zwei 14-jährigen Freundinnen. Die beiden Hauptfiguren Eka und Natia stehen im Mittelpunkt der Geschichte und ihre jungen Darstellerinnen liefern absolut beeindruckende Leistungen ab. Der Film zeigt eine Gesellschaft, in der Armut, Anarchie, Gewalt und überkommene patriarchalische Traditionen beherrschend sind, es aber trotz allem auch ein Gefühl von jugendlichem Aufbruch gibt. Die beiden Mädchen kämpfen alltäglich um Selbstbestimmung und Freiheit, eine wird schließlich Opfer eines Verbrechens. Der Film ist vielschichtig, emotional, gewalttätig, wirklich stark und darin, wie er sein Thema konsequent aus der Sicht zweier heranwachsender Frauen erzählt, wohl auch neu für das georgische Kino. Der Tanz, den Eka in einer der intensivsten Szenen spontan auf einer Hochzeitsfeier aufführt, ist übrigens, wie die Regisseurin im Publikumsgespräch erklärte, für jeden georgischen Zuschauer offensichtlich ein Männertanz. Das steigert natürlich noch einmal die Wirkung der Szene. Erstaunlich aber, dass sie auch ohne dieses Wissen schon so gut für mich funktioniert hat.

Preis: Preis der C.I.C.A.E. (Forum)

Auch die neue Heimat wird in naher Zukunft versinken

In der Dokumentation …Moddhikhane Char (Char… the No Man’s Island) aus dem Grenzgebiet zwischen Indien und Bangladesch von Sourav Sarangi, die ebenfalls in der Sektion Forum lief, habe ich mich sehr nass gefühlt. Sarangi begleitet eine arme Familie und insbesondere ihren Sohn im Teenageralter ein Jahr lang mit der Kamera im täglichen Kampf ums Überleben. Die Familie lebt auf einer Insel im Grenzfluss zwischen den beiden Ländern, die entstanden ist, nachdem der durch den Bau eines Staudamms in seinem Verlauf veränderte Fluss ihr altes Dorf einfach weggerissen hatte. Doch auch ihre neue Heimat wird in naher Zukunft wieder in den Fluten versinken. Bis dahin erlaubt ihnen die Lage im Grenzgebiet mit der lebensgefährlichen Tätigkeit als Schmuggler das Fehlen anderer Erwerbsquellen auszugleichen. Die geografische, ökologische, klimatische, politische und natürlich auch die menschliche Situation inmitten der sich Sarangi mit seiner Kamera bewegt, ist derartig extrem (und nebenbei auch symbolkräftig), dass es schwerfällt, nicht von diesem Film berührt zu werden. Dazu kommt, dass Sarangi mit dem Sohn der Familie einen Protagonisten vor der Kamera hat, der in seiner ruhigen, sympathischen Art einen tiefen Eindruck hinterlässt. Leider mangelt es dem Film etwas an einer klaren Struktur, die Zusammenhänge nachvollziehbarer machen würde. Außerdem wäre es wünschenswert gewesen, dass der Regisseur die Bedingungen, unter denen er filmen durfte – ohne Genehmigungen der indischen Grenztruppen wäre das Filmen nicht möglich gewesen – transparenter gemacht hätte.

Unsicherheit ausführlich ausgestellt

Mit Kujira no machi (The Town of Whales) der jungen japanischen Filmemacherin Keiko Tsuruoka, der ebenfalls im Forum gezeigt wurde, begann mein Berlinale-Mittwoch in gepflegter Langeweile. Die Sommerferien-Dreiecksgeschichte um einen Jungen und zwei Mädchen, die auf der Suche nach einem verschollenen Bruder in die große Stadt Tokio fahren, lebt von der Unsicherheit der Protagonisten. Die wird in eher uninteressanten Szenen ausführlich ausgestellt. Als ziemlich typischer Vertreter seines Genres hat der Film keine stringente Dramaturgie und hinterlässt viele offene Fragen. So etwas macht aber immer nur dann Spaß, wenn es einen Anreiz gibt, sich mit den offenen Fragen auseinanderzusetzen und die dramaturgischen Leerstellen mit der eigenen Fantasie zu füllen. Der fehlt hier.

Die Liebe der Eltern ist ein beklemmendes Drama

Eines der Highlights meiner diesjährigen Berlinale war dagegen der Schweizer Dokumentarfilm Vaters Garten – Die Liebe meiner Eltern von Peter Liechti (Sektion: Forum). Peter Liechti porträtiert darin seine über achtzigjährigen Eltern. Ein ganzes Jahr lang hat er sie mit der Kamera in ihrem Alltag begleitet und darüber hinaus sehr persönliche Interviews ohne Kamera mit ihnen geführt. Die Aussagen aus letzteren Gesprächen gibt der Film in Form eines Puppentheaters mit Hasen(!)-Puppen wieder. Dass das alles andere als albern wirkt, liegt mit an der Brutalität der gemachten Aussagen. Denn die Liebe von Peter Liechtis Eltern, sie ist beklemmendes Drama. Das Drama von zwei Menschen, die wie geschaffen dafür scheinen, einander alle Möglichkeiten für ein glücklicheres Leben zu nehmen und dabei doch immer zusammen zu bleiben. Es sagt auch etwas aus über die Werte einer früheren Generation, denen man nicht nachtrauert, nach diesem Film weniger denn je. Der nicht gerade unbeteiligte Regisseur erlaubt sich über Tonspur, Soundtrack und andere verfremdende filmische Mittel den ein oder anderen emotionalen Kommentar, der einfach raus muss und auch bei mir als Zuschauer für eine gewisse Erleichterung sorgt. Trotz der familiären Nähe wahrt er aber die nötige Distanz zu seinen Protagonisten und führt sie bei aller Kritik nie vor. Wie selbstverständlich gelingt es ihm nebenbei, die Balance zu halten zwischen sehr bedrückenden und komischen und anrührenden Momenten. Falls jemand ähnlich religiöse Angehörige oder Bekannte haben sollte wie Peter Liechti, übrigens unbedingt mal diese beiden Fragen ausprobieren: „Glaubt ihr, dass ihr in den Himmel kommt?“ und „Glaubt ihr, dass ich in den Himmel komme?“

Preis: Leserpreis des Tagesspiegel

Rotkäppchen und der böse Krieg

Am Donnerstag habe ich mir zwei Filme aus der Sektion Generation 14plus angesehen. Wer bei der Berlinale Filme aus der Sektion Generation sieht, bekommt zwei Filme zum Preis von einem, denn die Karten kosten hier nicht einmal halb so viel wie in den anderen Sektionen. Schlechter sind sie meistens auch nicht. Der türkische Beitrag Jîn von Reha Erdem hat mich allerdings nicht überzeugt. Thematisch geht er zwar richtig in die Vollen, denn er behandelt den Krieg der türkischen Armee gegen kurdische „Terroristen“ konsequent aus der Sicht eines kurdischen Mädchens, doch tut er das auf eher einfältige Weise. Jîn, deren Vater getötet wurde, als sie zwei Jahre alt war, hat sich einer Gruppe kurdischer Kämpfer angeschlossen, desertiert aber zu Beginn des Films und macht sich allein auf den Weg zu ihrer Großmutter, die in einem fernen Ort lebt. Reha Erdem setzt auf prachtvolle Naturaufnahmen, maximales Pathos und minimale erzählerische Komplexität. Wegen der Optik trägt Jîn passend zur olivgrünen Tarnkleidung ein leuchtend rotes Tuch auf dem Kopf. Rotkäppchen und der böse Krieg sozusagen. Sie stolpert durch die wunderschöne Landschaft und damit man auch merkt, dass sie auf der Flucht ist, liefert die Tonspur ständig überlaut ihren keuchenden Atem dazu. In regelmäßigen Abständen wird aus irgendeiner Ecke auf sie geschossen oder gebombt. Zwischendurch begegnet sie wilden Tieren, die ihr aber alle nichts tun, denn die Natur ist gut. Außerdem begegnet sie fremden Männern, die – mit Ausnahme der einen Ausnahme, die bekanntlich die Regel bestätigt – alle ihre Situation ausnutzen wollen, um sie zu Sex zu zwingen, denn der Mann ist böse. Es sei denn, er ist ein schwer verwundeter Soldat, dann muss man ihn pflegen, denn er ist ja auch nur der Sohn einer Mutter. Na ja.

Ein klassischer Jugendfilm, der alles richtig macht

Der zweite 14plus-Film an diesem Donnerstag war dafür richtig toll: Shopping vom Neuseeländischen Regieduo Mark Albiston und Louis Sutherland. Es war meine erste nicht digitale 35-Millimeter-Projektion auf dieser Berlinale – eine weiter sollte noch folgen, die dann allerdings kein aktueller Film, sondern einer von 1934 aus der Sektion Retrospektive. Eigentlich dachte ich, ich hätte überhaupt nichts gegen digitale Technik. Ich hätte wirklich nie gedacht, wie angenehm es sein würde, nach all den glatten digitalen Bildern mal wieder die Struktur von Filmkorn auf der Leinwand zu sehen. Aber es war so. Das lag sicherlich mit am Film, der in den 70er Jahren spielt und diese Zeit auch in den Details wunderbar einfängt. Dazu gehört dann einfach das Filmkorn. Die Hauptfigur Willy ist Sohn einer Samoanerin und eines weißen Neuseeländers. Er hat einen kleinen Bruder, um den er sich kümmern muss. Sein Vater schärft ihm ein, dass er sich gegen den Rassismus seiner Umgebung nur wehren könne, indem er selbst immer besser sei als die anderen und sich nie etwas zuschulden kommen lasse. Der Vater selbst ist dafür allerdings nicht das ideale Vorbild, denn er ist Alkoholiker und gewalttätig gegen Frau und Kinder. Besonders wenn er glaubt, dass sich sein Sohn nicht vorbildlich verhalten habe, schlägt er brutal zu. Willy begegnet einem Kriminellen, der ihm mehr und mehr zum Vaterersatz wird. Außerdem hat dieser Mann eine Tochter in seinem Alter. Für sie würde Willy seine Familie verlassen. Shopping ist ein geradezu klassischer Jugendfilm mit nachvollziehbaren Konflikten, perfekt in Tonlage, Rhythmus, Figurenzeichnung, glaubwürdig, rau, voll Außenseiterromantik und Gefühl, doch ohne Pathos. Dieser Film macht alles richtig.

Preis: Großer Preis der Internationalen Jury von Generation 14plus

Souveränes und unverkrampftes Spiel mit Geschlechterrollen — deutsche Uraufführung 2013

Am Freitag traten bei mir erste Ermüdungserscheinungen auf, weshalb ich mir nur einen einzigen Film angesehen habe. Es war der zweifellos lustigste Film meiner Berlinale, und der war von 1934: Peter von Hermann Kosterlitz (Sektion: Retrospektive), eine Depressionskomödie, wobei mit Depression in diesem Fall keine psychische Verfasstheit, sondern eine wirtschaftliche gemeint ist. Peter, heißt in Wahrheit Eva, ist also eine Frau. Als sie obdachlos wird, bemerkt sie, dass sie als Mann verkleidet eigentlich besser über die Runden kommt. Der Film wurde nach der Wahl Hitlers zum Reichskanzler hauptsächlich von aus Deutschland geflohenen jüdischen Filmschaffenden in Ungarn und Österreich gedreht, spielen soll er in Berlin. Es bestand damals die Hoffnung, dass er ins deutsche Kino kommen könnte, dazu kam es aber selbst nach dem Ende des zweiten Weltkrieges nie. Bei der Berlinale 2013 feierte er seine deutsche Uraufführung. Das verwundert nicht sonderlich, denn sein souveränes und unverkrampftes Spiel mit Geschlechterrollen war wohl auch für BRD und DDR zu modern. Regisseur Herman Kosterlitz wenigstens machte unter dem Namen Henry Koster in Amerika Karriere.

Konsequent assoziativ und aufs allerschönste surreal

Am Samstag, dem letzten offiziellen Berlinale-Tag habe ich mit Upstream Color von Shane Carruth (Sektion: Panorama) sicher einen der ungewöhnlichsten Filme dieses Jahrgangs gesehen. Inhaltlich wurden hier ein paar sehr schlechte Träume verarbeitet. Grob gesagt geht es um Würmer, die sich unter unserer Haut einnisten und unsere Beziehungen, unsere Wahrnehmungen, unsere Handlungen und unseren Drogenkonsum negativ beeinflussen – oder umgekehrt, oder vielleicht auch nicht. Die Erzählweise ist konsequent assoziativ und der ganze Film aufs allerschönste surreal. Dabei geizt Shane Carruth nicht mit filmischen Effekten und ausgefallenen Regieeinfällen. Das Tolle an diesem – stellenweise durchaus anstrengenden – Film ist, dass er eben nicht wie irgendsoein David-Lynch-Abklatsch aussieht, sondern wirklich etwas ganz Neues und im besten Sinn Eigenartiges darstellt.

Ein Werk, das es wohl ganz knapp nicht auf die Berlinale geschafft hat

And now to something completely different. Zum krönenden Abschluss des letzten offiziellen Berlinale-Tags bin ich in den Filmrauschpalast Moabit geradelt, eines dieser kleinen, versifften Kinos, die – anders als die Cinestars und -maxxen – auch mal, wenn nicht Berlinale ist, einen ungewöhnlichen Film zeigen. Zur Berlinale hatte es dafür konsequenterweise eine Spielpause eingelegt. Doch Samstagnacht lief hier die Weltpremiere von Rote Kacke 4: Die verlorenen Jahre des Regisseurs Krischan Horn (ich kenne ihn aus einer gemeinsamen Vergangenheit als Filmstartskritiker). Ein Werk, das es wohl ganz knapp nicht auf die Berlinale geschafft hat. Also, nach neun Tagen Kino ohne Pause kommt irgendwann der Moment, wo ein Filmkritiker einfach nicht mehr aufnahmefähig ist. Außerdem kam ich etwas zu spät zur Vorführung und habe die erste Szene verpasst. Deshalb habe ich zu wenig von diesem bestimmt sehr komplexen Film aufnehmen können, um hier eine Kritik zu schreiben. Das ist ganz allein meine Schuld. Außerdem fehlt mir die zum Verständnis sicherlich wichtige Kenntnis der extrem raren ersten drei Teile. Lobend erwähnen muss ich aber unbedingt die perfekt gelungene Joker-Maske des Bösewichts und dass ein echtes Pferd vorkam.

Der Sonntag, der zehnte Berlinale-Tag, zählt nicht richtig, denn das ist der sogenannte Publikumstag, an dem die Bären schon vergeben, die Eintrittspreise günstiger und die Akkreditierten ausgesperrt sind. Ich habe mir trotzdem noch drei Filme angesehen, die ich vorher terminlich einfach nicht unterkriegen konnte.

Der Sohn des Dorfvorstehers ist ein Kriegsverbrecher

Shito no densetsu (A Legend or Was It?) ist kein aktueller Film, sondern stammt aus dem Jahr 1963. Das Forum zeigte ihn in einer Reihe anderer Filme des 1998 gestorbenen Regisseurs Keisuke Kinoshita, der zu den wichtigsten Vertretern des goldenen Zeitalters des japanischen Films der 1950er Jahre gehören soll. Vielleicht fand ich den Film ja deshalb nicht so toll, weil er schon aus den 60ern stammt. Die Handlung beginnt in Japan im Sommer 1945, direkt vor dem Abwurf der Atombomben und kurz vor dem Ende des Krieges. In einem abgelegenen Dorf entwickelt sich eine Art Western um eine aus Tokyo evakuierte Familie. Die junge Frau, die eigentlich den Sohn des Dorfvorstehers heiraten sollte, lehnt die Heirat ab, nachdem sie von ihrem Bruder erfahren hat, dass ihr Bräutigam in spe im Krieg gegen China Frauen vergewaltigt hat. Die Dorfgemeinschaft akzeptiert die Ablehnung nicht, die nationale Demütigung des verlorenen Krieges und die Demütigung ihres Dorfvorstands rufen Hass und Gewalt auf die Fremden aus der Großstadt hervor. Thematisch klingt das spannend, war auch sicherlich mutig, allein schon wegen der Benennung der japanischen Kriegsverbrechen, als Film ist das Werk meiner Meinung nach aber dennoch eher nur von historischem Interesse. Die Figuren sind mir zu holzschnittartig, die Konstellation zu eindeutig, die Handlung zu absehbar und das bestimmt einer altehrwürdigen japanischen Schauspieltradition geschuldete Chargieren der Darsteller der „einfachen“ Dorfbevölkerung überschreitet meine Schmerzgrenze für unfreiwillig Unkomisches. Ach ja, dieser Film lief auch als 35-Millimeter-Kopie, dann waren es insgesamt also doch drei, die ich gesehen habe.

Langsamer heißt nicht langweiliger

Von einigen Kritikern des Wettbewerbs habe ich gehört, dass sie dieses Jahr stark unter Filmen mit langen statischen Einstellungen, in denen fast nichts passiert und wenig geredet wird, gelitten hätten. La Piscina von Carlos Machado Quintela aus Kuba (Sektion: Panorama) war der einzige Film, den ich gesehen habe, auf den diese Beschreibung zutrifft. Gelitten habe ich allerdings nicht darunter. Ich fand es eher erfrischend, mich lange – fast wie bei einem Foto – auf ein einzelnes, schön komponiertes Bild konzentrieren zu können, und schließlich aus der Kombination mehrerer solcher Einstellungen ein ganz anderes Empfinden für den gezeigten Raum zu entwickeln, als das normalerweise in Filmen der Fall ist. Ich mag es auch, wenn in einem statischen Bild dann eben doch eine Bewegung, eine Geste, eine Veränderung des Lichts sichtbar wird. So gekonnt gemacht wie in La Piscina ist ein solches filmisches Erzählen zwar langsamer, als man es gewöhnt ist, aber durchaus nicht langweiliger. Restlos begeistert war ich trotzdem nicht von diesem Film über vier Jugendliche mit unterschiedlichen körperlichen, seelischen und geistigen Beeinträchtigungen und ihren seltsamen Schwimmlehrer an einem Sommertag in einem leeren Schwimmbad. Mein Problem: Obwohl Spannung zwischen den Figuren besteht und auch durchaus geschickt in Szene gesetzt wird, entwickelt sich keine Geschichte. Das ist schade. Auf einmal war der Film zu Ende und ich hatte das Gefühl, er hätte noch gar nicht richtig angefangen.

Bewusstseinsverengender Strom aus nicht enden wollendem Blablablabla

Ganz anders verhielt es sich mit der Berlinale. Mit der war es nach 21 (+1) Filmen an 10 Tagen — wenn ich richtig nachgezählt habe — dann auch mal genug. Dabei haben mir die meisten wieder wirklich Spaß gemacht, auch viele, von denen ich nicht restlos überzeugt war. Der letzte Shirley – Visions of Reality von Gustav Deutsch (Sektion: Forum) allerdings nicht. Das war dann tatsächlich der schlechteste Film meines persönlichen Berlinale-Jahrgangs. Macht nichts, dadurch fiel der Abschied leichter. Der Film stellt in chronologischer Reihenfolge bekannte und weniger bekannte Bilder des Malers Edward Hopper als Filmsets nach. Die Filmsets sehen den Bildern in ihrer ganz eigenen Licht- und Farbgebung tatsächlich verblüffend ähnlich. Dafür gibt es Fleißpunkte. Die kreative Leistung liegt hier allerdings ganz allein bei Edward Hopper. Auf allen nachgestellten Bildern ist eine Frau abgebildet. Diese Frau ist im Film immer dieselbe, wenn ich den Titel richtig interpretiere, dürfen wir sie wohl Shirley nennen. Passend zu den leicht abstrakten, künstlich wirkenden Settings bewegt sich Shirley mit der Anmut und dem Ausdrucksvermögen einer Schaufensterpuppe. Weniger passend dazu ist ihr ständiges Gerede – sowohl aus dem Off als auch in den Bildern – das diese erstens ganz brav durch Anspielungen auf historische Ereignisse in ihren zeitlichen Kontext einordnen soll, zweitens die völlig beliebig wirkende Geschichte einer Frau aus dem Künstlermilieu erzählen möchte und drittens eine Art philosophische Metaebene einbaut. Hölzerner, aufgesetzter, bildungshubernder Käse ist das, wenn ihr mich fragt. Schlimmer, es ertränkt das Geheimnis und den Zauber der Bilder in einem bewusstseinsverengenden Strom aus nicht enden wollendem Blablablabla …

Was für ein Schlusssatz. Den möchte ich so nicht als Zusammenfassung meiner Berlinale-Zusammenfassung stehen lassen. Mein Schlusssatz lautet: Tschüs, Berlinale, bis nächstes Jahr!

Dosenthunfisch mit Fladenbrot

Ich habe die Berlinale 2012 hinter mich gebracht und eine historisch-mathematisch-biografische Einordnung tut not: Die Berlinale gibt es seit 62 Jahren. Mich gibt es seit 32 Jahren. Die Berlinale ist also 30 Jahre älter als ich. Vor 2 Jahren war sie genau doppelt so alt wie ich, das ist sie jetzt nicht mehr. In 28 Jahren wird sie nur noch um ein Drittel älter sein als ich. Obwohl sich der reale Abstand in Jahren zwischen uns natürlich niemals ändern wird, ist – wenn wir beide alt genug werden sollten – eine Zukunft denkbar, aus deren Perspektive betrachtet, der Abstand verschwindend gering geworden sein wird. Ich besuche die Berlinale, seit ich 9 bin, also seit 23 Jahren. Damals war die Berlinale 39, also mehr als viermal so alt wie ich, der Abstand zwischen uns schien groß. Das Premierenkino war der Zoo Palast, der Potsdamer Platz war Todesstreifen und meine ersten Berlinale-Kinderfilme sah ich in den Eva Lichtspielen in Wilmersdorf. Sie hießen: Vogelkönig, Zug in den Himmel und Goldregen und beeindruckten mich sehr.

Martin Thoma

Zug in den Himmel spielte in Peru (oder war es Chile?), ein Straßenjunge (oder war es ein Waisenkind?, oder beides?) fuhr als blinder Passagier in einem Zug bis zur Endstation, die sehr weit oben in einem hohen Gebirge (den Aden?) lag. Er hatte sich irgendwie im Freien zwischen den Waggons, dort, wo sie aneinandergekuppelt waren, versteckt. Ich fragte den Regisseur, ob der Junge (ich meinte den Darsteller), diese Fahrt auch in Wirklichkeit so gemacht habe. Heute würde ich anders fragen. Hauptsächlich deshalb, weil ich den Film auch anders erleben würde. Heute würde ich mehr Dinge in ihm sehen, von denen ich glauben würde, sie zu verstehen, und ich würde mich sicherlich nicht mehr so konzentriert und ohne mich ablenken zu lassen mit dem Jungen aus dem Film identifizieren. Schon während ich den Film sehen würde, würde ich ihn in einer Menge in unterschiedlichen Aspekten ähnlicher Filme, die ich gesehen und im Gedächtnis behalten habe, einordnen und im Vergleich zu ihnen bewerten.

Ich bin nicht dumm genug, zu leugnen, dass ich heute in jeder Hinsicht viel mehr mit einem Film anfangen kann, als mir das mit 9 Jahren möglich war. Doch es bleibt die Sehnsucht nach dem naiven Erleben. Sie ist jedesmal wieder da, wenn die Lichter im Saal ausgehen und der Vorspann beginnt. Und jedesmal wieder bleibt nach dem Abspann auch sehr guter Filme dieser Rest Enttäuschung, obwohl ich mich extra weit nach vorne gesetzt habe, den Blick von außen auf die flache Leinwand nie verloren zu haben und eben nicht für die Dauer des Filmes Teil einer fremden Welt geworden zu sein. Mit hektisch halbgarem Kritikergerede sofort beim Verlassen des Kinos lässt sich dieser Enttäuschungsrest nur unzureichend übertünchen.

Ganz selten gibt es Filme, in denen es für Augenblicke doch passiert, dass ich mich vorbehaltlos und unbewusst zum Gefangenen ihrer Bilder mache. Einfach über die Identifikation mit der Hauptfigur geht das nicht mehr, aber irgendwie kann es dennoch geschehen. Eigentlich sind das die Filme, für die ich ins Kino gehe. Auch wenn ich mir oft – und auch mit Vergnügen – Filme ansehe, von denen ich von vornherein weiß, dass sie es nicht sein werden.

Martin Thoma

Zur Berlinale ins Kino gehen, heißt auch, sich in langen Schlangen anstellen und warten. Das stört nicht, denn es macht die Filme wertvoller. Die Filme auf der Berlinale eröffnen ihrem Publikum fremde Welten. Das Publikum, das sie besucht, wendet sich auf seine Weise diesen Welten zu, es ist weltoffen. Der Mann hinter mir in der Schlange gibt in gemütlich schwäbischem Singsang an seine beiden Begleiterinnen Reisewarnungen für das nördliche Afrika aus. Anlass dafür scheint eine Tochter zu sein, die ein bisschen die Welt kennenlernen möchte. Am ehesten gehe wohl noch Tunesien, Marokko sei zu gefährlich, Ägypten im Moment natürlich sowieso, aber auch sonst. Vom restlichen Afrika – im Grunde einem einzigen Kriegsgebiet – ganz zu schweigen. Wenn man in einer Reisegruppe mit einheimischen Führern unterwegs sei, dann ginge Marokko natürlich. Man dürfe eben unter keinen Umständen den Schutz dieser Gruppe verlassen. Besonders als Frau nicht. Eine Frau, alleine unterwegs, sei in diesen Ländern leider immer noch Freiwild. Reisenden jungen Frauen rät er – außer von Afrika – auch dringend von Mittel- und Südamerika ab. Australien und Neuseeland seien gute Alternativen, auch in Asien gebe es noch ein paar Länder, die infrage kämen. Der Mann spricht mit der Autorität des gefragten Experten. Ich höre heraus, dass er einmal Urlaub in Marokko gemacht hat. Neben den Menschen könne dort leider auch das Essen sehr gefährlich werden. Gerade in den touristisch erschlosseneren Gebiete sehe man ihm seinen verdorbenen Charakter von außen tückischerweise oft nicht sofort an. Er und seine Frau hätten dieses Problem bei ihrem Marokkourlaub gelöst, indem sie sich ausschließlich von Dosenthunfisch mit Fladenbrot ernährt hätten. Das sei einigermaßen sicher.