Der lustige Fremde

„Ich brauche mehr Einsamkeit“, sagte der lustige Fremde und die Mauer widersprach nicht. „Dort, wo ich herkomme, habe ich verlernt zu atmen. An demselben Ort, wo ich es zunächst erst lernte – und zwar ganz und gar mühelos, soweit ich mich erinnern kann. Nie hätte ich gedacht, es könnte möglich sein, etwas so Selbstverständliches wieder zu verlernen. Und dennoch habe ich es verlernt“, sagte der lustige Fremde der Mauer. Und die schwieg. Zum Glück. Denn hätte der lustige Fremde sie sprechen hören, müssten wir uns wohl ernsthafte Sorgen um seine geistige Gesundheit machen, und das wollen wir nicht. Wir wollen uns um niemandes geistige Gesundheit sorgen müssen, am wenigsten um die eines Fremden. Der und sein Leben gehen uns eigentlich gar nichts an, was auch so bleiben sollte. Denn am einzelnen Fremden dran hängt ja auch noch seine fremde Kultur, von der man wenig weiß, doch was man so hört, ist wahrlich nicht nur Gutes. Sie soll insgesamt ungesund sein und – wenn man nicht aufpasst – zum Teil sogar gefährlich.

„Das Verlernen war ein schleichender Prozess“, sprach der Fremde weiter, „heimtückisch wie – ich weiß gar nicht genau wie. Wie ein Strudel in einem Badewannenabfluss für ein kleines Tier – ich weiß nicht, welche Sorte kleines Tier sich in Badewannen aufhält, eine Spinne vielleicht. Und die Spinne, von der ich jetzt mal annehme, dass sie schwimmen kann, treibt ganz ruhig und entspannt auf dem Wasser sitzend zum Abfluss hin und bemerkt die Strömung unter sich kaum. Und als sie sie dann doch bemerkt, ist die Strömung schon ganz gewaltig und reißend und mit einem kurzen Schlürfen verschwindet die Spinne in wenigen Sekundenbruchteilen im Abfluss – und das war es.

Ich habe nicht bemerkt, wie etwas ganz leicht, aber stetig sich steigernd an meinem Atem zog. Er strömte nicht mehr auf und ab in gleichmäßigen Wellen, er strömte Zug um Zug mehr in die eine Richtung, in einem Strudel mehr auf den Mittelpunkt meines Körpers zu, wo er sich sammelte und zu einer Art Klumpen verdichtete, der schwerer und schwerer wurde und immer mehr und schneller Atem sog. Da erst bemerkte ich es langsam. Nicht am Druck, der sich so gleichmäßig erhöht hatte, dass ich außer einem diffusen Unwohlsein nichts von ihm spürte; ich bemerkte es, weil ich mich immer öfter räusperte, in kleinen, lächerlichen Hustenstößen versuchte, etwas von dem Übermaß an Luft in mir wieder auszustoßen. Zu diesem Zeitpunkt war die Luft um mich herum, in der ich selbst mich mein Leben lang bewegt hatte, ganz dünn geworden und der schwere, alle Luft in sich aufsaugende Klumpen in meiner Mitte ganz dick. Es drang nun fast überhaupt kein Atem mehr aus mir heraus, und es schien unausweichlich, dass es mich und meinen ganzen Körper im nächsten Augenblick umkrempeln und ich mit einem kurzen Gurgeln in meinem eigenen Mittelpunkt verschwinden würde.“

Der lustige Fremde brüllte ein kräftiges Lachen gegen die Mauer. „Eine verrückte Vorstellung, oder? Und das Verrückteste ist, dass die Leute um mich herum ganz normal weitermachten. Ihnen schien es nicht an Atemluft zu fehlen und sie wurden auch nicht von mir aufgesogen.“

Der lustige Fremde schwieg und auf uns machte es den Eindruck, als wolle er der Mauer Gelegenheit geben, etwas dazu zu sagen, was natürlich kein gutes Zeichen gewesen wäre. „Ich habe mich immer so sicher gefühlt in meinen Alpträumen“, sagte er dann.

Martin Thoma

Martin Thoma

„Selbt in den allerschlimmsten gab es immer einen Teil von mir, der genau wusste, ich würde in meinem Bett aufwachen, in meinem warmen, weichen Bett, das vielleicht ein bisschen säuerlich, aber für mich angenehm nach mir selbst roch, in meinem sicheren Zuhause. Das war die Wirklichkeit. Das andere waren unterbewusste Fantasien, aber ohne tiefere Bedeutung, einfach Funktionen meines Gehirns zur Regenerierung, wie sie jeder andere Mensch auch hat, so wie jeder Mensch isst und verdaut und ausscheidet. Menschen, die sich über ihre Träume Gedanken machten, waren für mich in einer Phase ihrer Entwicklung stehen geblieben, sie waren wie kleine Kinder, die nach dem Aufsklogehen ihre Kacke begutachten und darin werweißwas Bedeutendes sehen.“

Flüchtig, beinahe wie zufällig berührte der lustige Fremde die Mauer. Einen kurzen Moment stützte er sich mit einer Handfläche gegen sie, verlagerte dann sein Gewicht und ließ die Hand noch ein paar Zentimeter die Ziegeln entlangstreichen, ehe er sie wieder fortnahm. „Die Wahrheit war“, sprach der lustige Fremde weiter, „in diesem Bett würde ich sterben. Nirgends war ich so gefährdet wie dort. Einmal lag der Tod neben mir. Du weißt schon dieses Skelett mit dem schwarzen Mantel und der Sense, ganz klassisch. Der Tod sagte nichts, er hatte bloß seinen Schädel in meine Richtung gedreht und grinste, was aber nichts zu bedeuten hatte, denn es war ja kein echtes Grinsen, sondern nur dieses grinseartige Aussehen, das ein Totenschädel eben hat. Doch dann hörte ich das Geräusch. Ein Knirschen. Nach einer Weile begriff ich, dass es der Tod war, der mit den Zähnen knirschte. Es klang fürchterlich, als knirschten die Wände, die Decke und der Boden mit. Mir war klar, dass das nur ein Traum war, darum hatte ich keine schlimme Angst. Vorsichtshalber wachte ich aber trotzdem lieber auf. Ich lag ganz allein in meinem vertrauten Bett, der Tod war verschwunden, ich atmete auf.

Das wollte ich zumindest. Doch ich konnte nicht. Ein tonnenschwerer Druck hielt meine Kiefer verschlossen und gleichzeitig rieben meine Zähne unablässig gegeneinander. Wenn sie so weitermachten, würden sie sich noch in dieser Nacht zu feinem weißen Pulver zermahlen. Ich versuchte vergeblich, sie auseinander zu bekommen, ich nahm meine Hände zu Hilfe und zerrte an meinem Unterkiefer, aber es ging nicht. Ich bekam Panik. Und dann hörte ich ein Lachen. Es war nicht zu orten, wohl aus irgendeiner der angrenzenden Wohnungen. Es dauerte gar nicht lang, aber es klang unglaublich hämisch. Mir wurde schlecht von diesem Lachen und als meine Zähne schließlich doch noch voneinander abgelassen hatten, hallte es lange in meinem Kopf nach.“

Wir fragten uns langsam, warum der lustige Fremde der Mauer von seinen Alpträumen erzählte, und bemerkten im nächsten Augenblick mit Schrecken, wie absurd diese Frage war. Als wäre es nicht völlig gleichgültig, was er der Mauer erzählte. Als wäre der eigentliche Skandal nicht, dass er überhaupt mit ihr redete. So weit war es mit uns also schon gekommen.

„Eigentlich war es schön zuhause“, sagte der lustige Fremde. „Ich kannte dort alles und jeden, sogar die Mauern. Oder, um genauer zu sein: Alles, was ich nicht kannte, sah ich nicht mehr. Alles, was ich sah, war lange und gut mit mir befreundet. Damals war ich der glücklichste Mensch, den man sich denken kann.“

Der lustige Fremde begann, die Mauer zu streicheln. Mit ein wenig abwesendem Blick, aber anhaltend. Er gab sich jetzt gar keine Mühe mehr, es wie zufällig aussehen zu lassen. Wir überlegten, ob wir einschreiten sollten. Eine Mauer kann sich schließlich nicht wehren. Es kam uns wie Missbrauch vor. Aber wir hatten Angst, uns lächerlich zu machen.

„Und dann hat sich der Tod zu mir ins Bett gelegt. Ich glaube, zur gleichen Zeit muss es mit dem Strudel in meinem Inneren losgegangen sein, doch es dauerte ein paar Jahre, bis er fast alle Luft um mich herum, in mich hinein gesaugt hatte. Da bin ich geflohen, obwohl Frieden und Wohlstand herrschten.“

Der lustige Fremde schwieg. Sollte das seine ganze Geschichte gewesen sein? Wir finden, er sollte wieder zu sich nach Hause gehen. Denn hier bei uns spricht man nicht mit Wänden. Niemand tut das. Es ist eine Beleidigung der Menschen. Nicht nur der Menschen: der Hunde und Katzen und Hamster und Heimchen und Fahrkartenautomaten, ja, sogar der Fahrkartenautomaten!

„Hier nennt man mich den lustigen Fremden“, sagte der lustige Fremde, „weil ich so viel lache. Immer, wenn mir etwas Neues begegnet, lache ich. Weil ich es kann — mein Atem geht wieder ganz leicht. Und immer begegnet mir etwas Neues. Ich weiß, dass mich die meisten hier nicht sonderlich mögen. Sie haben Angst vor mir, denn ich bin nicht von hier und mein Lachen verstehen sie nicht. Das ist gut. Es ist befreiend, sie alle so sehen zu können mit ihrer Angst und ihrer Verkrampftheit. Ich habe sehr viel Verständnis für sie und ihre Gefühle. Manchmal sogar ein bisschen zu viel. Dann denke ich, dass wir im Grunde gleich seien und Freunde sein könnten. Das ist nicht gut. Dann brauche ich dringend mehr Einsamkeit.“

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Mein erster Roman

Ich sitze in meinem Kinderzimmer auf dem Schrank. Wobei, „mein Kinderzimmer“ stimmt nicht ganz. Es ist das Kinderzimmer von mir und meiner Schwester. Meine Schwester ist zwei Jahre jünger als ich, aber mutiger. Mama nennt sie gern Anna die Mutige nach der mutigen und klugen kleinen Schwester vom Kleinen Vampir. Der Vergleich verletzt mich. Denn wenn sie Anna die Mutige ist, dann bin ich ihr Bruder Rüdiger – ein Angeber, der sie immer vorschickt, wenn es gefährlich wird. Und genauso meint es Mama auch. Wenn sie meine Schwester Anna die Mutige nennt, will sie mir damit sagen, wie ängstlich ich bin – große Klappe, nichts dahinter, typisch Junge eben. Ich finde meine Schwester auch mutiger als mich. Ich hoffe nur, sie bemerkt es nicht. Doch wenn Mama mit ihrem Anna-die-Mutige-Gerede weitermacht, ist das sicher nur noch eine Frage der Zeit. Trotzdem, ich bin und bleibe immerhin der Ältere. Ein paar wenige Vorrechte ergeben sich daraus. Zum Beispiel darf ich im Hochbett oben liegen. Und vom Hochbett aus kann ich auf den Kleiderschrank klettern. Dort sitze ich jetzt.

Ich sitze gern auf dem Schrank. Einmal weil es schön staubig ist, dann weil das Zimmer von so weit oben so anders aussieht und sich vor allem anders anfühlt. Wenn ich zu lange unten sitze, denke ich manchmal, ich bin nur ein Gegenstand in diesem Zimmer wie der kleine Ikea-Hocker, die lange Schreibtischplatte, die ich mir mit meiner Schwester teile (wobei ich als der Ältere den Platz am Fenster beanspruche), die beiden Klemmlampen an den Regalbrettern darüber, das Bücherregal oder meine rotweiße Schulmappe. Auf dem Schrank fühlt es sich nicht so an. Außerdem kann man vom Schrank runterspringen. Das macht Spaß und das macht Krach und der ärgert Mama. Übrigens glaube ich, dass sie mehr als der Krach ihre eigene Angst ärgert, ich könnte mich beim Runterspringen verletzen. Um vom Schrank zu springen, bin ich nämlich gerade noch mutig genug. In Wahrheit bin ich also immer noch mutiger, als Mama das recht ist.

Jetzt springe ich aber nicht, ich sitze. Ich sitze auf dem Schrank und denke über meinen ersten Roman nach. Er soll hundert Seiten haben. Ich habe einen nagelneuen Block mit hundert Blatt Din/A4-Papier und ich habe mir vorgenommen, jede Seite davon zu beschreiben. Ich weiß zwar noch nicht genau womit, doch ich habe schon überall unten links mit Filzstift eine Zahl geschrieben, von 1 bis 100, und es sind wirklich genau 100 Seiten im Block. Der schwarze Filzstift hat leider nur bis Seite 39 gereicht, dann war er leer und ich musste mit Braun weitermachen. Außerdem habe ich die 64 versehentlich zweimal geschrieben. Das fiel mir erst ganz zum Schluss auf, als nach der 99 keine Seite mehr übrig war. Zuerst dachte ich, die Hersteller des Papierblocks hätten mich um eine Seite betrogen, aber dann bin ich meine Seitenzahlen noch einmal durchgegangen und entdeckte meinen Fehler. Ich hätte fast geheult. Ich hatte mir vorgestellt, dass mein Buch wirklich schön werden würde, ich hatte extra Mama gebeten, mir einen neuen Block Papier mit 100 Seiten zu kaufen, ich hatte ihr extra nicht verraten, wofür ich ihn haben wollte, weil mir mein Plan, ein Buch zu schreiben, so wichtig erschien, dass ich irgendwie gar nicht darüber sprechen wollte, und jetzt konnte ich die letzten 36 Seiten des Blocks wegwerfen. Eigentlich konnte ich sogar den ganzen Block wegwerfen, denn mein Buch sollte 100 Seiten haben, das war ja gerade der Sinn der Sache und außerdem war es das einzige, was ich selbst bisher über mein Buch wusste. Ich versuchte, die falschen Seitenzahlen mit dem Tintenkiller zu löschen. Aber außer dass der Filzstift verschmierte und das Papier sich zu wellen begann, bewirkte er nichts. Schließlich strich ich die zweite 64 durch und schrieb 65 daneben, dann strich ich auf der nächsten Seite die 65 durch und schrieb 66 daneben, dann auf der nächsten Seite die 66 und immer so weiter bis ich die 99 durchstrich und 100 daneben schrieb. Es sah scheiße aus und meine Laune war im Keller, aber was sollte ich machen. Ich quälte mich bis zur letzten Seite, war wütend auf mich selbst und haderte gleichzeitig damit, dass ausgerechnet mir so etwas Doofes passieren musste. Aber ich gab es nicht auf. Mein erstes Buch war ein bedeutendes Projekt und ich würde mich so früh nicht entmutigen lassen.

Kurz nachdem ich die falschen Zahlen korrigiert hatte, kam Mama rein und wollte wissen, was ich auf meinem neuen Block denn die ganze Zeit schon so konzentriert Schönes malen würde. Ich mochte ihr eigentlich nicht verraten, was ich tat. Ich hatte sie ganz bewusst in dem falschen Glauben gelassen, ich wolle den Block zum Malen haben und hatte deshalb jetzt ein schlechtes Gewissen. Und sowieso wollte ich irgendwie noch nicht über mein Buch sprechen. Schließlich sagte ich es ihr aber doch. Sie war nicht begeistert:

„Aber dann fang doch erst mal an zu schreiben und schmier da nicht überall schon Seitenzahlen rauf. Das ist doch blöd, wenn du die Seiten nachher für was anderes verwenden willst. Und 100 Seiten vollschreiben, das schaffst du doch nie!“

Ich schmiss den Block mit voller Wucht auf die Schreibplatte, sprang auf mein Hochbett und kletterte auf den Schrank. Sie starrte mich kurz an und verließ dann wortlos das Zimmer.

Ich sitze auf dem Schrank und weiß nicht, was ich schreiben soll. Eigentlich soll es eine Detektivgeschichte werden. Aber jetzt will mir keine richtige Handlung mehr einfallen. Ich denke an einen Zahlencode, mit dem Botschaften verschlüsselt werden. Der Trick würde sein, dass man die Zahlen zum Teil durchstreichen muss, um ihnen eine neue geheime Bedeutung zu geben. Doch an der Frage, wie genau das gehen kann, beiße ich mich fest, sodass ich gar nicht mehr dazu komme, mir Gedanken darüber zu machen, was der Inhalt der verschlüsselten Botschaft sein könnte und ob sich darum herum eine Detektivgeschichte erzählen ließe.

Zu allem Überfluss fällt mir jetzt auch noch der Traum ein, den ich letzte Woche in Reli unvorsichtigerweise erzählt habe. Es war eine Hausaufgabe gewesen, der Klasse von einem Traum, den man gehabt hatte, zu berichten. Das war keine leichte Aufgabe, aber ich wollte unbedingt. Denn ich messe meinen Träumen eine große Bedeutung zu, den normalen Träumen und auch meinen Tagträumen. Träumen ist für mich dasselbe wie nachdenken. Ich kann meine Träume gar nicht richtig unterscheiden von meinen Gedanken. Und meine Gedanken sind sehr wichtig für mich. Ich bin schwächer als die Erwachsenen und ich bin auch schwächer als die meisten Kinder. Ich bin weniger mutig als meine kleine Schwester. Aber niemand hat so große, so reiche Gedanken wie ich. Natürlich weiß ich, dass ich anderen Menschen nicht in ihre Köpfe hineinsehen kann. Aber ich sehe es auch in ihren Gesichtern: Solche Gedanken wie ich hat ganz bestimmt keiner von denen.

Der Traum, den ich erzählen wollte, war ein Alptraum. In dem Traum brannte unser Haus. In dem Traum kam auch ein Mädchen vor, das ich mochte, Katja, die nicht auf meine Schule ging und die keiner meiner Mitschüler kannte. Ich hatte Angst um mich und um sie. Sie war ganz selbstverständlich Teil des Traums und ich bemerkte erst beim Erzählen im Klassenraum, dass ich erklären musste, warum sie dort und wer sie überhaupt war. Und ich bemerkte beim Versuch es zu erklären, dass ich es nicht konnte. Ich begann zu stocken, verhaspelte mich, wollte noch einmal neu ansetzen, da sagte Tarik: „Es ist seine große Liebe. Martin ist verliebt.“
Alle lachten. „Martin liebt Katja!“, riefen sie. Es gab keinen schlimmeren Vorwurf. Ich wollte ihm wütend widersprechen, da fiel mir auf, dass ich auch das nicht konnte. Ich wollte weg. Ich wusste nicht wohin. Ich weinte. Etwas Besseres, um aus der Situation rauszukommen, fiel mir nicht ein. Es funktionierte sogar einigermaßen. Die Reli-Lehrerin sprach in tröstenden Worten zu mir und in tadelnden zu Tarik.

Aus dem Traum könnte ich eine gute Geschichte machen. Aber das würde keine Detektivgeschichte werden. Es gibt einen Namen für solche Geschichten: Liebesgeschichten. Liebesgeschichten sind das allerletzte, was ich jemals lesen würde. Ich komme nicht weiter. Ich springe vom Schrank.

Die Geschichte meiner Träume — 2. Nacht

Raushau-Blog-Leserservice: Ja, ihr kennt das schon. Der nachfolgende Text hat 4344 Zeichen (incl. Leerzeichen) und ist „Ich schreibe wie“-zertifiziert mit dem Gütesiegel:

Ich schreibe wie
Joanne K. Rowling

Das Forschungsprojekt von AnwaltMap – anwälte. Ich schreibe wie…

oder vielleicht auch wie ihr deutscher Übersetzer, man weiß es nicht. Jedenfalls ein bisschen erschreckend, festzustellen, dass ich mich so langsam stilistisch bei Rowling einpendele. Für euch, liebe Leser, bedeutet das zunächst einmal, dass der Kram von seiner Lesbarkeit her echt für jeden machbar sein sollte. Ob es für mich bedeutet, dass ich es bald von HartzIV zum Millionär schaffe, da bin ich mir noch nicht so sicher, aber ich werde jedenfalls schon mal überlegen, an wen ich dann gegebenenfalls was spende und an wen nicht. Weiterer Leserservice: Ganz am Ende des Textes ist wieder ein Youtube-Link und irgendwo in der Mitte ein Foto von mir (ohne Bezug zum Text, aber mit Berlin-Bezug). Es folgt der Text.

Meine Träume langweilen mich.

Angst.

Na und?

Verlangen nach Anerkennung und/oder Bewunderung, nach Nähe und/oder Sex.

So what?

Schamgefühle, Peinlichkeiten, ungerechte Wut und gerechte Wut.

Hilft uns das weiter?

Geschichten, die gleich nach dem Anfang, wieder abbrechen – wobei man dazusagen muss, dass sie nie einen Anfang hatten.

Es ist wie im richtigen Leben.

Erinnerungen an mögliche Abläufe von Grund und Folge, die zur gleichen Zeit auftreten, zu der sie verschwinden und vielleicht keine Erinnerungen sind, sondern fehlgeleitete Versuche einer Rekonstruktion.

Weil ich jetzt weiß, dass ich noch schlafe, wenn ich aufwache, wache ich nicht mehr auf, wenn ich spüre, dass ich aufwache. Ich schlafe, so lang es geht. Der Hunger kann mich wecken. Oder die Pflicht. Manchmal auch ein Vorsatz. Wenn ich gut bin gar vorsätzliche Vorfreude. Meine Träume langweilen mich, aber ich schlafe weiter.

Noch unter der Dusche schlafe ich. Es gibt keinen bestimmten Punkt, an dem ich wach bin. Ich fließe vom Schlaf- in den Wachzustand und zurück. So treibe ich durch mein Leben.

Wo der Berg über dem Papiercontainer in sich zusammengebrochen ist, steht jetzt ein Wald. Die Vampire rennen durch den Wald. Wir sind zu dritt. Arian B. und Björn He. sind verschwunden. Die neuen sind Gregor und ein Vampir-Weibchen, das ich nicht kenne. Ihr fahlweißer Ausschnitt leuchtet mir den Weg.

Wir laufen über Bohlen. Unsere Schritte auf den Bohlen sind laut wie unser Atem. Wir rennen, als ginge es um etwas. Immer scheint es um etwas zu gehen in meinen Träumen. Doch um was es geht, dieses Geheimnis geben sie niemals preis. Die Bohlen lenken unseren Weg. Das scheint ihr einziger Zweck zu sein, der Boden unter ihnen jedenfalls ist ganz gewöhnlicher, gut begehbarer Waldboden.

Auf einer bunt illustrierten Informationstafel der Forstverwaltung sind verschiedene Fledermausarten abgebildet. Wir sehen nach, ob wir uns selbst finden. „Sucht euch einfach aus, welche ihr am liebsten sein wollt“, sagt der in Grün gekleidete Förster. „Ist scheißegal, sind eh alle ausgestorben.“ Wir sagen danke, wir töten ihn und wir saugen ihn leer. Ich will am Ausschnitt des Vampir-Weibchens saugen. Doch ich muss vorsichtig sein. Wenn ich es zu sehr will, wache ich auf und alles ist vorbei.

Ich wache auf.

Martin Thoma

Nach dem Aufwachen merke ich sofort, dass etwas nicht stimmt. Ein Blick aus dem sperrangelweit geöffneten Fenster und ich erkenne, was es ist: Europa ist untergegangen. Das fehlt gerade noch, denke ich.

Ich fahre den PC hoch und sende den aktuellen Text für mein(en) Blog dem übergangsweise regierenden Militärrat zum Gegenlesen. Weil ich so unwichtig bin und mich eh keiner liest, haben sie keine Einwände. Leider dauert die Begutachtung des Textes 300 Jahre – weil ich so unwichtig bin und der übergangsweise regierende Militärrat überlastet ist und sich erst mal um die wichtigen Probleme kümmern muss. Solange kann ich den Text natürlich nicht bloggen.

Um mir die Zeit bis dahin zu vertreiben, schreibe ich noch ein paar andere Texte, die ich auch beim übergangsweise regierenden Militärrat einreiche. Es kommt immer sofort eine freundliche Mail zurück, in der sie mir den Eingang bestätigen und um mein Verständnis bitten, dass die Bearbeitung noch mindestens 300 Jahre in Anspruch nehmen wird, in denen von Nachfragen abzusehen sei. Ich mache mir einen Spaß daraus, einen Text einzureichen, in dem ich den übergangsweise regierenden Militärrat scharf angreife. Weil ich ja weiß, dass sie ihn erst lesen werden, wenn ich schon lange tot bin, habe ich keine Angst. Trotzdem fühle ich mich wohlig rebellisch.

Irgend jemand muss ihn dann aber doch vorher gelesen haben, denn wenige Minuten später fliegt ein smarter Marschflugkörper durchs Fenster und explodiert direkt auf meinem smarten Mobiltelefon. Das Mobiltelefon liegt zwar am anderen Ende der Wohnung, doch die Wohnung ist glücklicherweise klein. Daher reicht die Sprengkraft aus, mich so schwer zu verletzen, dass ich schon nach wenigen Minuten sterbe. Ein langes und qualvolles Dahinsiechen bleibt mir erspart. In der kurzen Zeit, die ich noch habe, möchte ich mein Leben so weit in Ordnung bringen, dass ich wenigstens meinen GoogleSuper™-Account lösche, doch ich stelle fest, dass man das bereits für mich getan hat. Na, das funktionierte doch reibungslos, denke ich und sterbe halbwegs versöhnt mit der Welt.

Jetzt auch tot: Georg Kreisler

Die Geschichte meiner Träume — Nacht 1

Raushau-Blog-Leserservice: Der folgende Text enthält 7653 Zeichen (inkl. Leerzeichen) und ist „Ich schreibe wie“-zertifiziert mit dem Gütesiegel:

Ich schreibe wie
Joanne K. Rowling

Das Forschungsprojekt von AnwaltMap – anwälte. Ich schreibe wie…

Am Ende des Textes befindet sich wie immer ein feiner Youtube-Link als Belohnung für den Leser/die Leserin, der/die bis zum Schluss durchgehalten hat. Ausnahmsweise ist es auch erlaubt, in eigener Verantwortung nur den Youtube-Link zu konsumieren und meinen Text wegzulassen. In der Mitte des Textes befindet sich ein Berlin-Foto (oder ist es schon Brandenburg?) (Copyright bei mir), das in keinem näheren Zusammenhang zum Text steht, sondern nur meine Heimatverbundenheit demonstrieren soll. Dem Text vorangestellt ist eine einleitende Audiodatei, deren Zurkenntnisnahme für das richtige Verständnis des Textes essenziell ist.

Es geht um meine Existenz, nicht um mein Leben, denn ich habe keins. Ich bin ein Vampir. Ein Vampir, der sich im Gebirge verirrt hat. Die Lage ist trotzdem nicht ernst. Sie kann es nicht sein, denn Tim und Struppi sind ja dabei. Wo genau sie sind und was sie tun, weiß ich zwar nicht, doch es ist gut, sie ganz allgemein dabei zu wissen. Ich habe deutlich das Gefühl, dass meine irrende Suche letztlich nur ein Spiel ist, ein Kinderspiel, und nichts wird verloren sein, wenn ich verliere. Ich bin ein unsterbliches Kind und spiele: „so tun, als ob ich tot bin“. Ich bin er: ein kleiner Vampir, als Kind gebissen und für immer Kind. Und er spielt: „so tun, als ob er lebendig wäre“.

Mitten im Gebirge steht der Papiercontainer auf einer Almwiese am Fuß eines gewaltigen Geröllhanges. Es ist Sommer, es muss Sommer sein, wir kennen solche Almwiesen nur bei Sommer. Wir sind diese moderne Sorte Vampir, die die Sonne nicht mehr zu fürchten braucht. Im Übrigen ist auch davon auszugehen, dass in unserem Rucksack an technischem Gerät mindestens ein Handy und ein Notebook verstaut sind. Doch wir sind uns ganz sicher, dass sie uns bei unserer Suche nicht helfen würden, wir haben sie nur aus Gewohnheit eingepackt, fast ohne es zu bemerken. Wir würden uns Kühe herwünschen, aber es steht nur der Papiercontainer dort. Vor dem Container stehen wir, außer uns ist niemand hier. Der Schrei einer Alpendohle hallt von einer Felswand wider: tschrri. Selbstverständlich muss es Ruf heißen und nicht Schrei. Es bleibt ihr Ruf, auch wenn er in unseren Ohren zum Schrei wird.

Der Papiercontainer ist alt, von der Art, wie wir ihn schon ein Viertel Menschenleben lang nicht mehr gesehen haben. Die Beschriftung und der hellblaue Lack sind an vielen Stellen abgeblättert. Jemand muss ihn einmal angezündet haben, wir sehen Brandspuren. Der Papiercontainer quillt fast über mit Vampiren. Arme und Hände ragen aus seinen Öffnungen hinaus und winken und zappeln ein bisschen, sodass man meinen könnte, er wäre ein lebendiges Wesen.

Das Winken richtet sich an uns, doch bleibt unklar, was damit gemeint ist. Werden wir herbeigewunken, in den Container zu kommen wie alle anderen Vampire auch, oder soll das Wedeln der Arme und Hände im Gegenteil Abwehr signalisieren, weil der Container schon so voll ist?

Tief in unserem Inneren wissen wir, dass wir dort rein müssen. Doch scheint völlig unmöglich, dass es zwischen den Armen, die aus den Containeröffnungen ragen, ein Hindurchkommen geben könnte. Außerdem wollen wir dort nicht rein. Zwar stehen wir jetzt schon einmal davor und es wäre also der logische nächste Schritt, doch machen uns die vielen Hände und die Uneindeutigkeit ihrer Gesten Angst. Vielleicht sind wir unerwünscht, vielleicht ist es auch eine Falle, vielleicht würden sie uns erwürgen, ersticken oder zerreißen. Und wenn sie uns nur sanft berühren würden – war das unser Ziel in einem engen alten Papiercontainer von tausend und mehr blutleeren Händen befingert zu werden? Wir wollten doch auf den Gipfel. Auch wenn wir uns an den genauen Anlass unserer Suche nicht erinnern können, dass das Ziel der Gipfel und nicht ein Papiercontainer war, stand immer außerfrage.

Wobei – genau genommen war der Papiercontainer das Ziel. Aber wir waren davon ausgegangen, dass er auf dem Gipfel stehen würde, Fenster und eine Terrasse hätte und dass es ein Container für uns alleine wäre. Und eigentlich ging es nie um den Container, sondern immer nur um den Gipfel, den mit einem Gipfelkreuz eindeutig als die höchste Spitze dieses Berges gekennzeichneten Gipfel. Nur dort wollten wir hin. Wir waren dort verabredet, mit unserem Freund Björn He., auch er ein Vampir. Doch dann wollte Björn He. nicht mehr. Verstanden haben wir das nicht. Doch wir forderten keine Erklärung, wir hätten auch kein Recht dazu gehabt. Kein Vampir rechtfertigt sich jemals für sein Verhalten und niemals verlangt ein Vampir von einem anderen eine Rechtfertigung.

Vielleicht hing es aber damit zusammen, dass Björn He. viel mehr über den Container wusste als wir. Er wusste zum Beispiel auch, dass der Container voll sein würde, und er hat uns erklärt, wie wir trotzdem hineingelangen könnten. Wir können uns leider nur noch bruchstückhaft daran erinnern. Die Kernaussage lautete: Allein schafft es niemand. Doch der Rest war kompliziert. Man musste wohl zunächst einen Menschen hypnotisieren und dann beißen, danach konnte man zuerst allein in den Container, war dann aber dazu gezwungen, den Gebissenen ebenfalls irgendwie zu sich in den Container zu holen.

Nur wer, fragen wir uns, soll diesen Gebissenen spielen, wenn es offensichtlich im gesamten Gebirge, durch das wir nun schon werweißwie lange herumirren, keinen einzigen Menschen gibt. Ganz abgesehen von der Container-Problematik haben wir ohnehin schon einen wahnsinnigen Durst. Und dennoch zeigt das Wort „spielen“ in dieser leise zu uns selbst gestellten Frage, dass wir die Situation weiterhin nicht ernst nehmen. Im Grunde glauben wir nicht an die Wirklichkeit unserer Existenz, im Grunde glauben wir nicht an Vampire. Wir würden nicht so weit gehen, zu behaupten, dass wir nur geträumt seien, doch dass wir nur eine Figur in einem Film darstellen, das halten wir für wahrscheinlich.

Martin Thoma

Unser Freund Arian B. fällt uns ein. Auch er ein Vampir, auch er wahrscheinlich nur eine Figur, auch er auf der Suche nach dem Papiercontainer mit uns losgezogen. Auch ihn haben wir verloren.

Die fremden Vampirhände haben sich in den Papiercontainer zurückgezogen. Wenn man nicht so genau hinsieht, könnte man ihn jetzt für einen ganz gewöhnlichen alten Papiercontainer halten. Doch plötzlich gibt er ein dupfes Dröhnen von sich, kurz darauf gefolgt von einem weiteren. Es hallt wie Donnergrummeln von den Felswänden wider. Jemand schlägt mit einer Faust von innen gegen die Containerwand. Weitere Schläge folgen, weitere Fäuste schließen sich an, in kurzer Zeit sind es die Fäuste sämtlicher Vampire, die gegen die Containerwand hämmern. Ohne jeden Rhythmus, dicht hintereinander, fast wie das Prasseln eines Feuers, nur dumpfer und lauter, viel lauter. Sie schlagen mit übermenschlichen Vampirkräften gegen das Metall und es beult sich nach allen Seiten hin aus. Zweifellos wird es in wenigen Augenblicken zerreißen wie eine dünne Membran.

Ein mehrere Meter breites Stück löst sich aus der Felswand über uns und rutscht über die Geröllhalde direkt auf uns zu. Mit unseren Vampirkräften treten wir dagegen und es zersplittert in tausend Stücke. Zur gleichen Zeit lösen sich über uns drei neue Brocken. Den ersten zertreten wir wieder, doch die nächsten versuchen wir aufzufangen und, so gut es auf die Schnelle eben geht, ordentlich auf der Almwiese übereinander zu stapeln. Denn es kommen schon wieder neue Felsbrocken und es werden immer mehr und größere und wir wissen, wenn wir sie alle zertreten würden, entstünde dabei so viel Geröll, dass wir darunter begraben werden würden. Der ganze Berg bricht über uns zusammen, vielleicht sogar mehr als nur der Berg. Es kommt uns vor, wie ein gewaltiger Meteoritenhagel. Und wir fangen und sortieren die Teile.

Dann hören wir eine Stimme aus dem Container, die von uns in der dritten Person Singular spricht. Einen Augenblick lang denken wir, das seien wir selbst, dann, es sei Arian, dann kommt sie uns vor wie die Stimme von Björn. Inzwischen glauben wir, dass es bloß eine Tonaufnahme ist, die jemand gemacht hat, lange bevor es uns gab. Die Stimme sagt (und Gott weiß mit wem sie spricht): „Martin Thoma spielt gegen den Computer Space Invaders, was aber in Wahrheit aussieht, wie Tetris.“

Was für ein dämlicher Kommentar, denken wir, und stemmen uns weiter gegen die herabstürzenden Felsbrocken.

Franz Josef Degenhardt (1931-2011)

Flughafensee

Raushau-Blog-Leserservice:

Gemäß „Ich-schreibe-wie“-Zertifizierung liest sich folgender Text wie ein Text von Joanne K. Rowling. Na, wenn das nichts ist! Der Text ist (mit Leerzeichen) 5003 Zeichen lang.

Am Ende des Textes befindet sich wieder ein, nein, diesmal sogar zwei Youtube-Links, zu denen gerne auch vorscrollen kann, wer keine Lust auf Lesen hat.

Als brandneuen Leserservice bietet das Raushau-Blog auch eine automatisch vorgelesene Version des Textes an:

Oh, das ist ja ein englischsprachiger Vorleseroboter. Der braucht natürlich auch einen englischen Text zum Vorlesen, damit man ihn etwas besser versteht. Also lasse ich meinen deutschen Text vom Google-Übersetzerroboter in einen englischen umwandeln und erneut vorlesen:

Das ist ja überraschend poetisch geworden. Aber vielleicht suche ich besser doch noch mal nach einem deutschsprachigen Vorleseroboter:

Und jetzt zum Selberlesen:

Hinter dem Wasser liegt die Startbahn. Ich sehe die glänzenden Maschinen vorbeifahren und abheben. Ich bin müde. Kann sein, dass ihr stetiges dumpfes Dröhnen und ihr an- und abschwellendes schrilles Pfeifen einschläfernd wirken. Ich habe mich hinter einer Düne dicht am eingezäunten Vogelschutzgebiet in den Sand gesetzt. Von hier aus sehe ich keine Menschen und obwohl ich ein Stück weiter weg welche plantschen und kreischen höre, bilde ich mir ein, ich wäre mit den Flugzeugen allein.

Der Himmel ist eine blaue Kuppel über Wasser, Sanddünen und Wald, eine Halbkugel über einer im ganzen ziemlich flachen Erde. Auf Bildern der Erde in Schulbüchern und im Internet sieht man, dass sie eine Kugel ist mit dem Himmel als äußere Hülle. Was stimmt wirklich? Ich sollte lieber glauben, was ich mit eigenen Augen hier draußen sehe. Bilder im Internet können gefälscht sein. Das bringen sie einem sogar in der Schule bei. Aber die Bilder, die sie selbst einem zeigen, meinen sie damit natürlich nicht.

Ein Schatten fällt auf mich. Es ist kein Flugzeug. Die Flugzeuge werfen ihre Schatten nicht bis hierher. Es ist Mama. Mama sagt, ich soll aufhören, mit der Plastikflasche gegen die Birke zu schlagen. Ich hatte nicht bemerkt, dass ich das tue. „Bei ALDI gibt es noch 25 Cent dafür. Das waren einmal 50 Pfennig“, behauptet sie vollkommen ernst. „Aber für eine kaputte Flasche gibt es gar nichts.“ Ich lasse die leere Flasche neben mich in den Sand fallen.

„Der geht hoch“, sagt Mama. Es ist ein Airbus 320 von British Airways. Das Dröhnen nimmt kaum zu, während er beschleunigt, nur das schrille, hohe Pfeifen. Ich folge der Maschine mit den Augen, sehe sie steil nach oben steigen und schnell kleiner werden. Ihre Flugbahn wird flacher und bevor sie gegen die Kuppel stoßen würde, fliegt sie parallel zu ihr weiter und ist sehr schnell außer Sicht.

Ich könnte mir das stundenlang angucken, ohne eigentlich etwas Bestimmtes zu denken. Dabei fühle ich mich trotzdem auf eine gute Weise so, als würde ich mir ganz viele Gedanken machen über die Dinge, die wirklich wichtig sind. Warum riesige schwere Maschinen fliegen können, aber ich nicht zum Beispiel, oder warum ich lebe und nicht tot bin. „Träumst du wieder vor dich hin?“, sagt Mama oft, wenn ich auf diese Weise denke. Aber hier am Flughafensee schaut sie genauso den Flugzeugen hinterher. „Träumst du wieder vor dich hin?“, frage ich, um sie ein bisschen zu ärgern, und sie ärgert sich ein bisschen: „Ach Quatsch!“ Im Weggehen sagt sie, dass wir in einer Viertelstunde aufbrechen werden.

Auf einer Boje sitzt ein großer schwarzer Vogel mit einem langen Schnabel. Er hat seine Flügel weit ausgebreitet. Um sie in der Nachmittagssonne des warmen Spätsommertages trocknen zu lassen, nehme ich an. Ich überlege, ob ich noch einmal ins Wasser gehe und versuche zu ihm hin zu schwimmen. Das wäre aufregend, weil es ja ein ziemlich großer Vogel ist und auch kein halbzahmer wie ein Schwan. Er hat eher etwas von einem pechschwarzen Flugsaurier.

Noch ein A 320, diesmal von Air Berlin, startet, während gleichzeitig direkt dahinter eine gerade gelandete McDonell Douglas ausrollt. Bald machen sie den Flughafen zu. Ich weiß nicht, ob wir dann noch hierher kommen werden. Mama sagt, dann wird es bestimmt noch voller werden und dann hätte sie wirklich keine Lust mehr, sich das anzutun. Aber bis dahin wäre ich ja auch groß genug, um alleine mit meinen Freunden zu gehen. Ich werde aber bestimmt nicht mehr kommen, wenn keine Flugzeuge mehr starten. Im Fernsehen haben sie neulich ein paar Anwohner interviewt, die gegen die Schließung sind. „An das Geräusch der Maschinen gewöhnt man sich doch“, hat einer gesagt und ist dann richtig wütend geworden. „Sonst hat man kein Geld, aber für einen neuen Flughafen ist auf einmal welches da. Und auch wenn man schon meint, dass man einen neuen bauen muss. Dann muss man den alten noch lange nicht zumachen. Als ob der nicht mehr gut genug sei.“ Ich bin auch dagegen. Wenn ich erwachsen bin, will ich entweder Koch oder Bundeskanzler werden. Wenn ich Bundeskanzler werde, mache ich den Flughafen wieder auf.

Mama ruft, dass wir losgehen. Ich glaube der schwarze Vogel hat sich die ganze Zeit nicht ein Stück bewegt. Ich habe mal mit einem Freund gewettet, wer am längsten mit ausgebreiteten Armen stehen kann. Er konnte länger. Aber wenn der Vogel mitgemacht hätte, hätte der Vogel locker gewonnen.

Ich stehe auf, drehe mich um und sehe nur noch aus den Augenwinkeln, ein landendes Flugzeug über die Bahn hinausschießen in ein Gebiet, wo ich es nicht mehr sehen kann. Der schwarze Vogel fliegt erschrocken auf und ich höre Hunderte Tonnen Metall zerkrumpeln und Bäume splittern. Es klingt wie nichts, was ich kenne. Zwei Explosionen folgen dicht aufeinander und ich falle zurück in den Sand. Ich weiß nicht, ob es der Schreck ist oder tatsächlich der Druck, der sich einen Augenblick so anfühlt, als käme die Luft als eine Wasserwand auf mich zu. Dann brennt der Wald in einem ähnlichen Orangerot wie die Sonne.